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Meinung: Italien: Die private Republik

Der Oberstaatsanwalt von Mailand, Francesco Saverio Borrelli, nahm kein Blatt vor den Mund: "Widerstehen, widerstehen, widerstehen", rief er seinen Zuhörern bei der traditionellen Eröffnung des Justizjahres zu. In ganz Italien haben Richter und Staatsanwälte die Gelegenheit genutzt, um "die unaufgebbare Piave-Linie", wie Borrelli es formulierte, zu verteidigen.

Der Oberstaatsanwalt von Mailand, Francesco Saverio Borrelli, nahm kein Blatt vor den Mund: "Widerstehen, widerstehen, widerstehen", rief er seinen Zuhörern bei der traditionellen Eröffnung des Justizjahres zu. In ganz Italien haben Richter und Staatsanwälte die Gelegenheit genutzt, um "die unaufgebbare Piave-Linie", wie Borrelli es formulierte, zu verteidigen. Im Ersten Weltkrieg verhinderten die Italiener an jenem norditalienischen Fluss den österreichischen Marsch auf die Po-Ebene. Jetzt geht es der Justiz darum, einen anderen Dammbruch zu verhindern und die eigene Unabhängigkeit vor Eingriffen der Regierung zu retten.

Italien befindet sich in einer schweren Verfassungskrise. Schuld daran ist die Regierung. Sie setzt alles daran, einen Strafprozess gegen Regierungschef Berlusconi scheitern zu lassen. Und Richtern und Staatsanwälten bei Korruptions- und Finanzdelikten die Hände zu binden. All das wird begleitet von einer Diffamierungskampagne - besonders gegen die Mailänder Richter, die seit zehn Jahren versuchen, Licht in das Korruptionsgeflecht der ersten Republik zu bringen. Die Maßnahmen sind mannigfaltig: Da soll der Richter im Berlusconi-Prozess versetzt werden, was ein Wiederaufrollen bedeuten würde und damit am Ende Verjährung; dann wieder versucht der Justizminister, den Prozess an ein genehmeres Gericht zu bringen; oder der Innenminister entzieht der Staatsanwältin, früher eine prominente Antimafia-Ermittlerin, den Begleitschutz.

Hinzu kommt ein Strauß von neuen Gesetzen: Erst wird das Strafmaß für Korruption und Bilanzfälschung gesenkt - somit sind einige Prozesse gegen Berlusconi automatisch verjährt. Dann beschließt die Koalitionsmehrheit, dass Aktenkopien aus dem Ausland italienischen Authentizitätsmaßstäben genügen müssen - entgegen dem europäischen Rechtshilfeabkommen von 1959, nach dem die Kriterien des Landes angewandt werden, das die Akten zur Verfügung stellt. Das Gesetz gilt auch für laufende Verfahren. Somit geraten 810 Mafiaprozesse, 1619 wegen Eigentumsdelikten, 1045 Drogen-Prozesse, 398 Geldwäscheverfahren, 766 Korruptionsprozesse, 704 Anklagen wegen Wirtschaftsverbrechen und 66 Terror-Verfahren in Gefahr zu platzen.

Jetzt will Berlusconi auch noch die Möglichkeit eröffnen, illegal ins Ausland transferierte Gelder unter Wahrung der Anonymität nach Italien zurückzubringen: Das Belpaese droht zum Rückzugsgebiet für Kriminelle aus ganz Europa zu werden. Ohnehin ist die Zahl der neu eröffneten Korruptionsverfahren auf einem historischen Tiefstand angelangt: Die Einschüchterungsversuche der Regierung zeigen erste Wirkung.

In Italien lässt sich derzeit die Entstehung eines neuartigen autoritären Regimes besichtigen. Bis auf wenige Ausnahmen trauen sich Sender, Magazine und Zeitungen kaum noch, die Interessenkonflikte der Regierung klar zu benennen. Viele sind sowieso in Berlusconis Hand, andere gehören Industrieunternehmen, die es sich mit dem mächtigsten und reichsten Mann im Staate nicht verderben wollen. Und wer noch unabhängig ist wie die staatliche RAI, dessen Direktorium vom vorherigen Parlament eingesetzt wurde und bis Ende Februar amtiert, wird massiv eingeschüchtert. Man muss nur einmal miterleben, wie der postfaschistische Kommunikationsminister sich wutentbrannt in Livesendungen einschaltet: Hier versucht eine parlamentarische Mehrheit mit allen Mitteln Widerstand niederzuwalzen. Sollte es Berlusconi gelingen, auch noch den Widerstand der Richter und Staatsanwälte zu brechen - Italien würde zur autoritären Privat-Republik eines Unternehmers.

Die "Piave-Linie", von der Borrelli gesprochen hat, ist keine rein italienische Front. Sie kennzeichnet eine rote Linie für ganz Europa. Berlusconi hat sie zum Teil schon überschritten. Jetzt rächt sich, dass die EU sich noch kein Grundgesetz gegeben hat, das demokratische Mindeststandards in den Mitgliedsländern sichert. Aber wenigstens politisch müssen die EU-Länder jetzt reagieren. Denn schlimmer für Europa als der Rücktritt von Außenminister Ruggiero, schlimmer als die Euro-Schelte von Ministern ist die Schädigung der italienischen Demokratie. Diese Entwicklung bedroht die Fundamente, auf die Europa gebaut ist.

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