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Meinung: Jenseits des Kirschkuchens

Schwergewichtige Themen und leichtgewichtige Politiker: Deutschland im heißen Herbst

Von Antje Sirleschtov

Den Reformherbst 2003, das steht schon mal fest, werden Historiker wohl als den härtesten in der deutschen Parlamentsgeschichte bezeichnen. Bei mehr als zehn Riesengesetzen, die es zu verabschieben gilt, ist das wohl auch kein Wunder. Doch wie wird man dereinst über die Politiker in diesem Herbst 2003 urteilen? Darauf darf man wirklich gespannt sein.

Die Haushaltswoche – gewissermaßen der Auftakt zu diesem historischen Herbst – war, na sagen wir es mal zurückhaltend, müde: Der Finanzminister hat einen Haushaltsentwurf vorgelegt, den er selbst als ergebnisoffenen Arbeitsauftrag mit Milliardenlöchern bezeichnete. Der Kanzler bat alle und zuvorderst die Union um Verzeihung dafür, dass seine Regierung in der Vergangenheit Fehler gemacht hat. Und die Oppositionsführerin verweigerte die Herausgabe eines Rezeptes für Kirschkuchen. Sind sich diese Politiker eigentlich darüber bewusst, welch einschneidende Folgen für die Bürger all das haben wird, was an Gesetzen für Arbeitsmarkt, Gesundheit und Steuern schon auf dem Tisch liegt und was für Veränderungen zumindest bei der Rente in wenigen Wochen noch dazu kommen werden?

Eines steht fest: Die Bürger und Unternehmer brauchen in gut drei Monaten ein Höchstmaß an Sicherheit. Und damit ist nicht die Erhaltung ihres Status Quo gemeint. Viel zu weit ist dafür inzwischen die Einsicht gereift, dass sich das Land bewegen muss. Und nur noch Ignoranten denken, dass Veränderung allein dann gut ist, wenn sie den eigenen Geldbeutel verschont.

Welche Art von Veränderung erwartet man dann also von Bundestag und Bundesrat? In erster Linie geht es wohl darum, dass Politik das ihr überhaupt Mögliche tut, um den gerade in ersten Ansätzen beginnenden Wirtschaftsaufschwung zu unterstützen.

Ein Vermittlungsverfahren zwischen den Machtzentren Bundestag und Bundesrat könnte solch eine Wirkung haben. Wenn denn die Beteiligten überhaupt verhandlungsbereit sind. Und wenn alle Seiten so gut vorbereitet sind, dass daraus am Ende wirklich Gesetze entstehen, nach denen die Betroffenen handeln können und die neue Chancen eröffnen. Denn Unternehmen, die bis Mitte März keine Klarheit über ihre steuerliche Belastung haben, werden in keinen Aufschwung der Welt investieren. Und von Arbeitsämtern, die erst im Sommer mit der Organisation von Job-Centern beginnen können, darf man keine Vermittlungserfolge erwarten.

Doch das ist noch nicht genug. Wenn Koalition und Opposition über Nullrunden für Rentner, Eigenheimzulage und Pendlerpauschale streiten werden, dann muss ihnen klar sein, dass es hierbei nicht um das Zusammensparen von Milliardenbeträgen für den Haushalt des Bundes geht. Und auch nicht darum, eine deutsche Schuldenblamage in Brüssel abzuwenden.

Viel wichtiger als der löchrige Etat 2004 ist der Blick ins nächste und übernächste Jahr. Dann wird es entweder mehr Wirtschaftswachstum und damit mehr Steuern und Sozialabgaben geben. Oder die Stagnation setzt sich weiter fort, mit allen bekannten Folgen für Staat und Solidarsysteme.

In beiden Fällen aber werden Zinsen und die demographische Entwicklung den Anteil dessen weiter schmälern, was die Gesellschaft für öffentliche Investitionen in Straßen, Hochschulen, Theater und Kinderbetreuung zur Verfügung hat. Und in beiden Fällen werden sich die heutigen Politiker morgen umso mehr schmerzhaften Einschnitten und Schuldenabbau zu stellen haben. Besser ist es, sie fangen damit gleich in diesem Herbst an.

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