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Meinung: Jetzt spielen wir alle mit

Public Viewing bei der WM erweitert die Fan-Perspektive – und verändert das Fernsehen

Das Wort der Stunde heißt: Public Viewing. Was irgendwie größer und weltläufiger klingt als „öffentliches Fernsehen“, bei dem man womöglich nur an die Institutionen der öffentlich-rechtlichen Sender denkt. Fernsehen in Gemeinschaft statt allein zu Haus als couch potato, sprich: Bier-Chips-und-Sofamuffel, das hat es durchaus schon bei früheren Sportereignissen gegeben. In der alten Bundesrepublik begann mit der Fußball-WM 1970 in Mexiko der Siegeszug des Farbfernsehens – auch in Kneipen, Cafés und beim so genannten Italiener um die Ecke, der auf die Novität mit handgemalten Schildern im Fenster verwies.

Vorausgesagt wurde in den letzten Jahrzehnten dann meist das Gegenteil von dem, was wir jetzt allerorts vor Großbildschirmen und Riesenleinwänden erleben. Fernsehen als Medium der massenhaften Einsamkeit – die Botschaft wirkt so kurios wie verschroben in diesen enthusiastisch und elektronisch erhellten Tagen und Nächten. Ohnehin drängt es immer mehr Menschen, mit anderen zusammen zu sein, selbst in Museumsschlangen oder bei längst totgesagten Dichterlesungen. Auch das richtig große Kino, das schon sein Ende durchs Fernsehen überlebt hat, wird mindestens in den Städten über alle DVDs und jeden Beamer-Boom im Wohnzimmer triumphieren.

Public Viewing bei dieser WM aber ist noch mehr. Es ist eine neue Dimension der öffentlichen Teilhabe: ein viele vereinendes Straßen- und Staats-Theater, das die Trennung vom eigentlichen Geschehen, dem Stadion und dem leibhaftigen Match, immer perfekter überspielt. Erstmals sind die realen Orte, beispielsweise das Berliner Olympiastadion, als verkleinerte, dennoch imposante Arenen nachgebaut, und dank Technik und Inszenierung wird auf den Fernsehbühnen die symbolische Teilnahme zu einer zweiten, virtuellen Wirklichkeit. Deshalb feuern Hunderttausende die Akteure auf Schirmen und Leinwänden wie die lebenden Spieler an, wobei die synchrone Bewegung und Begeisterung im Stadion eine wechselseitige Übertragung der Emotionen suggeriert.

So wird der fernsehende Fan, der sich kleidet und schmückt wie ein Stadionbesucher, vom Konsumenten zum Mitspieler: ein Fall von sportlichem Cybersex. Total geil, obwohl völlig künstlich. Platos Höhle, wo die Realität nur Schimäre war, ist endlich zum offenen Weltraum geworden.

Damit verändert sich freilich auch das Medium selbst. Das Fernsehen überträgt nicht mehr nur aus dem öffentlichen Raum in die Privatsphäre. Sondern schafft eine eigene, doppelte Öffentlichkeit. Soweit sich TV-Kommentatoren dabei noch als Sportreporter begreifen – also als Journalisten und Vermittler, nicht als Verkäufer –, müssten sie das Wechselspiel zwischen dem Stadion drinnen und dem Stadion draußen mitbedenken. Das Fernsehen ist nämlich auch hier, trotz aller Arena-Illusion, nur eine Scherbe, nie der ganze Spiegel der Welt. Das weiß, wer beim Fußball auch nur ein einziges Mal das reale Spiel mit den Fernsehbildern verglichen hat. Die Kamera ist im Ausschnitt oft näher dran, dennoch sieht man im Stadion noch immer mehr. Doch eben für diese Live-Erkenntnis fehlen heute vielen TV-Reportern die Augen – und Worte.

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