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Warten auf den Rücktritt? Journalisten vor dem Schloss Bellevue.

© Reuters

Journalisten und Mehrheit: Der Ton macht die Musik

In seiner neuen Kolumne macht sich Matthias Kalle Gedanken über die unterschiedliche Wahrnehmung von Journalisten und Nicht-Journalisten - und kommt zu einem weihnachtlich-versöhnlichen Schluss.

Die Stadt ist fast leer, wo sind denn alle hin? Auf dem Weg zum Büro bin ich allein, im Büro bin ich fast allein, am Schreibtisch sitze ich – logischerweise – ganz allein, beim Schreiben kann man mir nicht helfen, beim Denken auch nicht, das ist manchmal gut und manchmal schlecht.

Es ist dann schlecht, wenn ich an Christian Wulff denke, denn der Mann ist nicht der Präsident, den ich mir ausdenken würde – Joachim Gauck kam meiner Vorstellung eines Bundespräsidenten erschreckend nah, aber er wurde nun mal nicht gewählt, und ich bin ein Anhänger unserer Demokratie, ich bin ein Fan des Grundgesetzes. Mein Problem ist gerade ein anderes, mein Problem ist eher eine déformation professionnelle, die kann man an Weihnachten eigentlich nicht gut gebrauchen.

Ich bin der Meinung, dass Christian Wulff zurücktreten muss, ich ahne, dass die meisten meiner Kollegen der gleichen Meinung sind, und ich weiß, dass eine große Mehrheit der Deutschen anderer Meinung ist: über 70 Prozent meinen, er solle im Amt bleiben. Im Frühjahr waren die Fronten ähnlich, in der Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg. Da waren sich relativ schnell relativ viele Journalisten sicher, dass dieser Mann zurücktreten müsse – während relativ viele Bürger das anderes sahen. Es gibt einen Graben zwischen den Journalisten und den Menschen, für die Journalisten eigentlich schreiben sollten – verstehen Journalisten die Menschen nicht mehr, oder verstehen die Menschen die Journalisten nicht mehr? Reden beide aneinander vorbei?

Wenn Journalisten Dinge empfehlen, dann interessiert das im Prinzip niemanden so richtig. Bücher, die im Feuilleton hoch gelobt werden, landen selten auf den Bestsellerlisten. Bücher, die auf den Bestsellerlisten stehen, werden von Journalisten meist so lange ignoriert, bis man sich darüber lustig machen und den Untergang des Abendlandes in dem Erfolg ausmachen kann. Bei Filmen, bei Musik, bei Fernsehsendungen greift ein ähnlicher Mechanismus: Was den Journalisten, den Kritikern gefällt, stößt bei den Lesern oft auf Unverständnis. Was Kinobesuchern, Fernsehzuschauern, Lesern und Hörern gefällt, lehnen Journalisten oftmals ab. Ist das nun aber gut oder schlecht? Und wie konnte es nur so weit kommen?

Journalistische Einschätzungen: Was ist mehrheitsfähig?

Vielleicht liegt es an einem gewissen Originalitätsdruck. Als Journalist will man seine Kennerschaft auch dadurch beweisen, dass man das Gute, Wahre, Schöne dort findet, wo andere nicht einmal suchen würden. Vielleicht ist es genau diese Suche, die den Graben erst möglich gemacht hat. Ein Beispiel: Die Tätowierung der Präsidentengattin Bettina Wulff war zu Beginn der Amtszeit ein Thema – und zwar eines, das von den meisten mit Wohlwollen behandelt wurde. Christian Wulff selbst nannte das Tattoo seiner Frau (ein so genanntes "Tribal" auf dem rechten Oberarm) "cool", andere hielten so etwas für "erfrischend": eine tätowierte First Lady. Überhaupt bringe sie neuen Schwung ins Schloss Bellevue, vereinzelt fiel sogar das Wort "Glamour". All das sah ich überhaupt nicht, all das konnte ich nirgends erkennen, "cool" und "erfrischend" sind für mich Menschen, die nicht tätowiert sind, Tattoos halte ich im Gegenteil für ein Zeichen ausgemachter Spießigkeit – unter Kollegen bin ich mit dieser Einschätzung nicht allein. Aber ist sie auch mehrheitsfähig?

Überraschen, nicht langweilen, originell sein, smarter als die anderen: um diese Ansprüche zu erfüllen, scheinen wir manchmal über das Ziel hinauszuschießen – und ernten Unverständnis. Das macht es dann umso schwieriger, wenn moralisch argumentiert wird, denn dann wird Moral schnell auch zu einer originellen Eigenschaft. Wulff verhielt und verhält sich formaljuristisch korrekt – aber reicht das aus? Oder anders gefragt: Sind Journalisten, die so argumentieren, in den Augen der Leser tatsächlich die Instanz, die so etwas beklagen und einfordern darf, wenn sie sich doch in anderen, banaleren Geschmacksfragen von ihnen entfernt haben?

Ich habe mich ein paar mal in dieser Kolumne ganz furchtbar geirrt, ich habe mich in manchen Fernsehkritiken für die Medienseite des "Tagesspiegel" zu abfällig geäußert, tatsächlich erkannte ich das erst, nachdem mich Leserbriefe- und Userkommentare darauf aufmerksam gemacht haben, denn das sind die Momente, in denen man nicht mehr allein am Schreibtisch sitzt, sondern erfährt, was die eigene Arbeit anrichten kann – im Guten wie im Schlechten. Aber was ist die Konsequenz aus dieser Erkenntnis?

Vielleicht am Ende dann doch die, dass sich zwar über Geschmack nicht streiten lässt, dass aber der Ton die Musik macht. Und dass sich ein Orchester manchmal besser anhört als die erste Geige.

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