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Katastrophengefühle: Unter dem Vulkan

Der Verkehrskollaps mag ökonomische Folgen haben, aber plötzlich ist da etwas, das größer ist als das weltpolitische Tagesgeschäft. Von Plinius dem Älteren, der in Pompeji starb, und Plinius dem Jüngeren, der vom Tod des Onkels unter dem Vulkan berichtet, bis Roland Emmerich und James Cameron: Die Lust an der Katastrophe gehört zu den Konstanten unserer Kultur.

Das Schauspiel hat einen unaussprechlichen Namen: Eyjafjöll. Ja, die Welt ist sprachlos. In einem apokalyptisch anmutenden Ausmaß kommt der Flugverkehr zum Erliegen. Auf Island rührt sich ein Vulkan, und der Mensch des 21. Jahrhunderts scheint auf unbestimmte Zeit seiner kostbarsten Errungenschaft beraubt zu sein, der uneingeschränkten Mobilität. Wir bleiben am Boden und müssen begreifen, dass eines Tages vielleicht Astronauten zum Mars fliegen, aber nie ein lebendiges Wesen zum glühenden Kern der Erde vordringen wird.

Mit Prometheus und dem Feuer, das er den Menschen bringt, beginnt dem Mythos nach die Zivilisation. Aber das rote Element bleibt unbeherrschbar. Die industriellen und naturwissenschaftlichen Revolutionen haben das prometheische Eisen tüchtig geschmiedet. Das Feuer lässt sich in Hochöfen sperren, der Atomkern spalten. Wir verändern das Klima, wir können Naturkatastrophen mit auslösen und Gott abschaffen, und es geht uns gut damit. Doch die schwarze Eyjafjöll-Wolke streift selbst den abgebrühtesten Agnostiker und wirft ihn schier um Jahrtausende zurück, auf den geistig-emotionalen Stand des Naturmenschen, der im vulkanischen Geschehen, im Wetter, am Himmel überhaupt das Werk der Götter erkennt. In solchen eruptiven Momenten blitzt das Atavistische auf, Demut und Aberglaube.

Vulkane sind das offene Auge der Erde. Sie faszinieren, sie ziehen an. Der antike Philosoph Empedokles stürzt sich, so will es die Legende, so will es Hölderlins Dichtung, in den Ätna, um der undankbaren Welt zu entfliehen und sich mit der Natur zu vereinen. Der Ausbruch des Vesuv und die Zerstörung Pompejis am 24. August 79 nach Christus beschäftigen die Fantasie bis heute – Strafe der Götter für spätrömische Dekadenz? Die Wiederentdeckung der von Lava und Asche verschütteten Städte in Süditalien Mitte des 18. Jahrhunderts löst den nie unterbrochenen Antiken-Boom aus. Mit Pompeji und Herculaneum setzt auch die Ästhetisierung von Naturkatastrophen ein.

Die Zivilisation gleicht einem Deckel, mit dem der Dampfkochtopf der Natur verschraubt wird. In gewissen Zyklen geht die Geschichte hoch. Am 27. August 1883 explodiert im indonesischen Inselmeer der Vulkan Krakatau. Hunderte Städte und Dörfer werden zerstört, zehntausende Menschen sterben. Den Donner des Ausbruchs hört man über tausende Kilometer bis Australien und Mauritius. Bis Europa sind die Ausläufer der Flut zu messen, die Vulkanasche verteilt sich über die ganze Welt. Mit dem Entsetzen verbindet sich die Schönheit der Elementargewalt. Die Schwebepartikel in der Atmosphäre brechen das Licht, weit entfernt von Krakatau entfalten sich erhebende, außergewöhnliche Sonnenuntergänge. Es wird berichtet, dass Edvard Munch in Norwegen hingerissen ist von „Wolken aus Blut und Flammen … über dem blau-schwarzen Fjord“. Farben der Angst, Farben des Gefühls, Naturfarben. Munchs berühmtes Gemälde „Der Schrei“ soll von dem Spektakel, das zwischen Sumatra und Java seinen Ausgang nimmt, beeinflusst sein.

Wenn das nicht gut geforscht ist, dann ist es grandios erfunden. Ein Vulkanausbruch als Schrei der Natur. Dabei ist zu beobachten, wie das Innere des Stratovulkans Eyjafjöll, dieses unvorstellbare Wolkengebilde, in seiner trägen Dynamik die zwischen Themen und Terminen zappelnde Welt sediert. Der Verkehrskollaps mag ökonomische Folgen haben, aber plötzlich ist da etwas, das die Weltfinanzkrise überschattet und überlagert, zumal in Island. Etwas, das größer ist als das weltpolitische Tagesgeschäft. Etwas Übermächtiges und zugleich Flüchtiges, dem Mensch und Technik und Feinstaubverordnung nichts anhaben können.

Womöglich erleben wir die ideale Katastrophe – den Vulkan, der aus dem Gletscher hervorbricht, Lava und Eis. Eine Katastrophe, die kein Menschenleben kostet. Wie im Kino. Von Plinius dem Älteren, der in Pompeji starb, und Plinius dem Jüngeren, der vom Tod des Onkels unter dem Vulkan berichtet, bis Roland Emmerich und James Cameron: Die Lust an der Katastrophe gehört zu den Konstanten unserer Kultur.

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