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Meinung: Ketten aus Hass

Russland und Tschetschenien kommen voneinander nicht los, für eine politische Lösung bräuchten sie ein Minimum an Vertrauen

Am Tag danach bleibt das Entsetzen. Die Bilder der fast nackten, schreienden Kinder und Frauen, die um ihr Leben rennen, die Augen vor Todesangst weit aufgerissen, die von Tränen zerfurchten Gesichter der Angehörigen, die Erschöpfung und Fassungslosigkeit der freiwilligen Helfer, die auf blutbefleckten Armen Kleinkinder aus der rauchenden Schulruine tragen – dieser Alptraum wird lange nicht vergehen. Manche Geschehnisse sind so unfassbar grausam, dass die Menschen wie betäubt reagieren.

Und noch immer hat die Pein kein Ende. Stündlich fast sind die Opferzahlen gestiegen, von 150 am Freitagabend auf mindestens 250 am Morgen des Sonnabends – und da sind noch lange nicht alle aus der Turnhalle geborgen, die von den Trümmern der einstürzenden Decke erschlagen oder von Sprengsätzen zerfetzt wurden. 322 Tote melden die Behörden am Mittag. Doch in den Krankenhäusern kämpfen bestimmt hundert Schwerstverletzte ums Überleben, die Bilanz ist unmenschlich grausam. Beslan ist der schlimmste Terroranschlag seit drei Jahren – seit dem 11. September 2001.

Hilflos und ratlos starrt man auf das Unfassbare. Denn es ist gar keine Perspektive absehbar. Wie will man eine Wiederholung solcher Besetzungen in Schulen oder Krankenhäusern mit über tausend Geiseln verhindern? Durch militärische Macht wohl kaum. Der russische Staat hat, wie es derzeit aussieht, viele Befürchtungen wieder bestätigt: Menschenleben gelten wenig, der „starke Staat“ viel. Es häuften sich Pannen beim Einsatz, die Informationen wurden manipuliert. Wieder ist es nicht gelungen, eine solche Ausnahmesituation zu einem glimpflichen Ende zu führen. Und gibt es überhaupt die viel geforderte politische Lösung für Tschetschenien? Wäre Unabhängigkeit oder Autonomie, gegen die sich der Kreml so brutal wehrt, denn ein Ausweg? Oder würde diese Entwicklung nur Rebellen in den nächsten Teilrepubliken ermuntern und einen Flächenbrand im Kaukasus auslösen, der so reich an Völkerscharen und ethnisch-religiösen Konflikten ist wie keine andere Region der Erde?

Tschetschenien ist ein Musterbeispiel, wie Gewalt und Gegengewalt zur Radikalisierung führen. Zehn Jahre dauert dieser schmutzige Krieg schon. Massengeiselnahmen und von Moskau oktroyierte Scheinwahlen ziehen sich wie ein Muster durch den Konflikt. Aus einem ursprünglich vor allem nationalen Kampf um Unabhängigkeit ist eine fanatische Terrorbewegung mit starkem islamisch-fundamentalistischem Einschlag geworden, die arabische Extremisten in ihren Reihen hat und Kontakt zu Al Qaida hält.

Präsident Putin, der am Freitag, dem Tag der Katastrophe, die Öffentlichkeit gemieden hatte, ist am Sonnabend nach Beslan gekommen und hat mit Überlebenden gesprochen. Er behauptet, er habe keinen Befehl zum Sturmangriff gegeben, wie vor zwei Jahren beim Geiseldrama im Moskauer Musicaltheater „Nordost“, was 129 Unschuldige das Leben kostete. Den Spezialkräften sei keine andere Wahl geblieben als einzugreifen. Eine Sprengfalle sei explodiert, und die Terroristen hätten auf flüchtende Kinder geschossen.

Darf man ihm das glauben? Was wirklich geschah, wird – vielleicht – eine Untersuchung klären, sofern sie nicht völlig vom Kreml abhängig ist. Zu viel Hoffnung sollte man sich nicht machen. Vieles deutet darauf hin, dass Putin aus der Tragödie im Musicaltheater wenig gelernt hat. Auch in Beslan herrschten wieder Desinformation, Chaos und mangelnde Vorsorge für die Opfer. Viele offizielle Angaben stellten sich als falsch heraus, angefangen von der Zahl der Geiseln, die von rund 350 auf weit über 1000 stieg. Steckt Unwissenheit dahinter – oder die bekannte Neigung des Kreml, die Realität zu beschönigen und nur einzuräumen, was unwiderlegbar ist?

Es bleibt der Eindruck, dass Putin neben der offiziellen Priorität – das Leben der Geiseln zu retten – ein zweites oberstes Ziel hat: sich als Führer eines starken Staates zu zeigen, der Rebellen brutal und kompromisslos entgegentritt. Wie soll das zusammengehen? Gestern in Beslan fiel er wieder in die Rhetorik eines Herrschers, der mit seinen Befehlen alles im Griff hat. „Ich habe angeordnet, dass Beslan abgeriegelt, die Grenzen Nord-Ossetiens geschlossen und Kontrollen durchgeführt werden, um alle zu finden, die in Verbindung mit dem Terrorakt stehen.“ Der regionale Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Valerij Andrejew, sprach sogar von einer „erfolgreichen Operation“. Schließlich seien „alle 26 Geiselnehmer getötet“ worden. Von der Einsicht, dass ein Staat, der seine Bürger nicht retten kann, keineswegs stark ist, sondern ohnmächtig schwach, war nichts zu hören.

Dabei schien das neue postsowjetische Russland schon einmal auf dem Weg zu einem modernen Verständnis von Staat und Bürgergesellschaft – 1995/96, als tschetschenische Rebellen zwei Mal Krankenhäuser in benachbarten Republiken besetzt hatten. Da tobte unter Boris Jelzin ein erbitterter Kampf in Moskau zwischen Anhängern des starken Staates und Pragmatikern um Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin und General Lebed. Im Juni 1995 hatte Schamil Bassajew – der Feldkommandeur, der mutmaßlich auch hinter der Schultragödie in Beslan steckt – das Krankenhaus der südrussischen Stadt Budjonnowsk mit rund 1500 Menschen in seine Gewalt gebracht. Nach tagelanger Belagerung mit mehreren Stürmungsversuchen erreichte Tschernomyrdin in Telefongesprächen mit Bassajew eine Einigung: Die rund 50 Rebellen erhalten freien Abzug, 150 Duma-Abgeordnete, lokale Behördenvertreter und Menschenrechtler erklärten sich bereit, sie quasi als Schutz zur Grenze zu begleiten. Friedensgespräche für Tschetschenien wurden zugesagt.

Zuvor waren mehrere Angriffe der Spezialtruppen fehlgeschlagen. Jelzin, der gerade beim Weltwirtschaftsgipfel in Halifax weilte, grollte aus dem fernen Kanada, er selbst habe den Befehl zum Sturm gegeben, und gab sich siegesgewiss. Doch die Bilder von Kranken in den Fenstern, die von Terroristen als lebende Schutzschilde missbraucht wurden und die Soldaten anflehten: „Schießt nicht auf uns!“ bewegten Russland. Das Konzept vom starken Staat, der keine Rücksicht nimmt, und die Parolen von der Größe und Unbesiegbarkeit waren diskreditiert. Die Medien verlangten ein unblutiges Ende, stützten Tschernomyrdin gegen Jelzin.

Die versprochene politische Lösung ließ auf sich warten. Der Kreml setzte statt dessen Wahlen in Tschetschenien an, in denen er den Moskau-treuen Ex-KP-Chef Sawgajew auf den Regierungssessel in Grosny hievte – unter ähnlich grotesken Umständen wie bei der jüngsten Präsidentenwahl dort.

Im Januar 1996 wiederholten Tschetschenen die Attacke, besetzten Krankenhaus samt Geburtsstation in Kisljar/Dagestan, hatten bald auch Bahnhof und Flugplatz in ihrer Gewalt. Sie forderten den Abzug der russischen Truppen aus dem ganzen Nordkaukasus, sonst würden sie mit der Erschießung der mehr als tausend Geiseln beginnen. Nach Verhandlungen ließen sie einige frei und verlangten nur noch den freien Abzug.

Doch die Staatsmacht hielt sich nicht an die Absprachen, sprengte die Brücke auf dem Rückzugsweg von Dagestan nach Tschetschenien und blies schließlich zum Sturmangriff auf das Dorf Pierwomajskoje, wo sich die Rebellen mit über hundert Geiseln verschanzt hatten. Der Einspruch der dagestanischen Provinzregierung, die ein Blutbad vermeiden wollte, half nichts. In viertägigen Kämpfen starben mehr als 200 Zivilisten, dreißig Soldaten und 40 Rebellen. Ihr Anführer Radujew jedoch entkam mit den übrigen Kämpfern und einigen Geiseln. Das dämpfte die Hoffnung, Budjonnowsk stehe für Russlands Wende zu einer Zivilgesellschaft, in der das Leben der Bürger mehr zählt als das Phantombild vom starken Staat.

Die Rebellen haben längst kein Vertrauen mehr zu russischen Zusagen, ob es nun um freien Abzug geht oder das Versprechen einer politischen Lösung für Tschetschenien. Allerdings hat auch Moskau traumatische Erfahrungen mit Zugeständnissen gemacht. Im August 1996, als die Rebellen sogar die Hauptstadt Grosny zurückerobert hatten, beendete General Lebed in Jelzins Auftrag den ersten Tschetschenienkrieg mit einem Vertrag. Danach blieb Tschetschenien zwar Teil der Russischen Föderation, erhielt aber eine weitgehende Autonomie. Aus russischer Sicht wurde diese bis 1999 währende Autonomie unter dem moderaten Rebellenführer Aslan Maschadow zu einem Desaster. Die Staatlichkeit in der kriegszerstörten Teilrepublik war schwach, Tschetschenien wurde zum Sammelbecken für Islamisten aus dem Ausland, die den Freiheitskampf von hier aus in den übrigen Kaukasus tragen wollten. Nationaler Kampf, muslimischer Dschihad und mafiöse Strukturen, die zum Beispiel am Erdöltransfer verdienen wollten, vermengten sich – auch moskautreue Gruppen mischten mit wie der Clan des späteren Statthalters Ahmed Kadyrow, der jetzt im Mai 2004 bei den Feiern zum Jahrestag des Kriegsendes 1945 ermordet wurde.

Aus Kremlsicht entwickelte sich das autonome Tschetschenien zu einem „failing state“, der zur Ausgangsbasis von Terroristen wird wie seinerzeit Afghanistan für Osama bin Ladens Al Qaida. So eröffnete Moskau 1999 offiziell wieder den Tschetschenienkrieg, den zweiten. Seine Truppen bekamen wieder relativ rasch die Hauptstadt und den Großteil des flachen Landes unter Kontrolle – aber nur bei Tageslicht. Gegen Überfälle aus den Bergen und Attentate blieben sie machtlos.

Das alles schreit nach einem neuen politischen Konzept. Doch die bösen Erfahrungen machen es beiden Seiten fast unmöglich, an den Verhandlungstisch zu kommen. Die Brutalisierung der Auseinandersetzung, die Radikalisierung der tschetschenischen Rebellen und parallele Marginalisierung moderater Führer sowie die unendliche Erbitterung über die Opfer in fast jeder Familie erschweren eine Verständigung zusätzlich.

Dann ist da noch die weiter zurückliegende Vorgeschichte: die Drangsalierung der Kaukasusvölker durch das russische Kolonialreich, die rücksichtslose Umsiedelungs- und Nationalitätenpolitik unter Stalin. Er verfrachtete ganze Völker, auch die Tschetschenen, im Zweiten Weltkrieg nach Mittelasien, weil er fürchtete, sie würden sich mit Hitler verbünden, um ihre Unabhängigkeit zu erreichen. Die russische Oberhoheit haben insbesondere die muslimischen Völker nie akzeptiert. Und der erfolgreiche Kampf der Georgier, Armenier oder Aseris (die Titularnation Aserbaidschans), die das Glück hatten, in einer sezessionsfähigen Sowjetrepublik zu leben (und nicht nur in einer Teilrepublik oder einem autonomen Gebiet) hat sie aufgestachelt. Gerade deshalb wird Moskau einer Unabhängigkeit wohl kaum zustimmen. Es fürchtet einen Dominoeffekt, der nach und nach den ganzen Kaukasus erfasst.

Und Autonomie? Das sagt sich hierzulande so leicht – auch weil solche politischen Zugeständnisse in Westeuropa halfen, Terror zu beenden: den der Basken oder der Iren. Mit ihnen konnte man verhandeln und durch Zugeständnisse, wie die regionale Autonomie in Spanien oder den nordirischen Friedensprozess, ihr politisches Umfeld austrocknen. Die islamistischen Terrorgruppen jedoch werden solche Angebote wenig beeindrucken und Selbstmordattentäter nicht von ihren Untaten abhalten. Sie wollen keine Kompromisse, sondern den absoluten Sieg.

Ein ehrliches Autonomieangebot hätte vermutlich Wirkung in Tschetschenien. Die Mehrheit der Bevölkerung will nach allem, was wir wissen, keinen islamischen Gottesstaat. Sie fühlt sich durch die Radikalisierung von Krieg und Terror jeder Lebensperspektive beraubt. Doch kann sie sich nicht gleichzeitig gegen russische Armee und ausländische Terrornetze zur Wehr setzen. Wer von Russland eine Autonomieregelung für Tschetschenien fordert, sollte jedoch Vorschläge machen, welche durchsetzungsfähige Macht die Garantie übernimmt, dass sich die Entwicklung nach 1996 zum Sammelbecken für Terroristen nicht wiederholt. Wer wäre dazu bereit und fähig? Und würde Moskau bei seinem Verständnis von Staatlichkeit solche Hilfe annehmen?

Tschetschenien, aber auch Russland sind, wie es scheint, in einer fast ausweglosen Lage. Politische Kompromisse, die vor Jahren vielleicht getragen hätten, wirken heute irreal. Und doch ist die Suche nach einer politischen Lösung, auch mit Hilfe muslimischer Vermittler, das Einzige, was dieser Region eine Perspektive geben kann.

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