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Meinung: Kinder, wie die Zeit nicht vergeht

Roger Boyes, The Times

Wegen einer Allergie kratzte ich mir jahrelang die linke Hand. Eine unattraktive Angewohnheit und ich war kurz davor, einen schwarzen Handschuh zu tragen. Ein Arzt riet mir, meine Armbanduhr nicht mehr umzubinden und, warum auch immer, die Allergie flaute ab. Seitdem bin ich von den öffentlichen Uhren Berlins abhängig. Oft sind die absichtlich und lästigerweise versteckt. Man kann Stunden im KaDeWe oder in Tegel verbringen, ohne genau zu wissen, wie spät es ist. Viele der Berliner Uhren gehen zudem nicht mehr. Die Uhr am Roseneck war eingefroren um zwanzig nach sechs, morgens wie abends eine angenehme Zeit. Nun geht sie wieder spießig genau, aber sicher nicht lange. Monatelang stand die Uhr am SBahnhof Grunewald auf 15 Uhr 15. Vielleicht waren die beiden Zeiger verklemmt oder verschmolzen. Die Busfahrer verlängerten also ihre Kaffeepause und die Fahrgäste checkten hektisch die eigenen Uhren oder Handys. Auch diese Uhr wurde repariert, hinterließ im Kiez aber eine existentielle Verunsicherung. Am schlimmsten sind Krankenhausuhren. In einer mir bekannten Klinik wurde die Uhr in den Aufwachräumen mit Absicht zwei Stunden vorgestellt. Die Patienten sollten vermutlich erschreckt und ihre Genesung so beschleunigt werden. Man sollte Hans Wall, der Berlins City-Toiletten so einwandfrei pflegt, zum Uhrenwart machen.

Berlin hat ein Problem mit der Zeit. „Nach Berlin zurückzukommen gleicht einer Zeitreise“, sagte mir neulich ein amerikanischer Historiker. „Der S-Bahnfahrplan hat sich im letzten Jahrzehnt kaum verändert, Verkäufer benehmen sich wie in den 70ern, als ihre Jobs noch sicher waren, in den Reinigungen gehen die Klamotten weiter verloren wie in den 80ern. Udo Jürgens schreibt noch immer Lieder für die deutsche Nationalmannschaft. Wer braucht da Uhren?“ Wir führten dieses Gespräch im Hotel California am Kudamm. Und natürlich dachten wir beide dann an den alten Eagles-Song „You can check out of the Hotel California, but you can never leave …“ Ich dachte immer, das Lied wäre über Drogen, dabei handelt es von Berlin.

Es gibt Momente in der Geschichte, wo verschlafener Charme völlig ausreicht, und andere, wo Winterschlaf Wahnsinn ist. Bonn zu besuchen, ist dafür lehrreich. Man sieht, wie dynamisch die Stadt geworden ist, seit sie von der Regierung und dem Totgewicht der Bundesverwaltung befreit wurde. Bonn hat vom Umzug profitiert, während Berlin eine Chance nach der anderen verpasst hat. Die Stadt verschläft den Weckruf des eigenen Weckers.

Rat kommt vom Experten für Zeit: Einstein. Statt Gebäude mit Einsteins banalen Sprüchen zur Demokratie zuzupflastern, sollten wir uns mit seiner ernsten, nachdenklichen Weisheit über die Eigenschaft der Zeit auseinandersetzen. Wäre ich jünger, würde ich nachts rausschleichen und den Spruch an der Humboldt-Uni („Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig“) klauen und die ersten fünf Worte ans Kanzleramt hängen. Den Einstein-Spruch am Presseamt („Die Sehnsucht des Menschen verlangt nach gesicherter Erkenntnis“) würde ich ans „Bild“-Hochhaus in der Axel-Springer-Straße kleben. Vielleicht nimmt Regierungssprecher Béla Anda ihn mit, wenn er im Herbst dorthin umzieht. Die einzig gute Einstein-Floskel ist die am Umweltministerium: „Von der Ferne sieht alles schief und suspekt aus, besonders, wenn es von den verflixten Berlinern kommt.“ Zugegeben, keine genialen Worte, aber genug, um darüber ein wenig nachzudenken, während ich behutsam in meiner Hängematte schaukele und am Stand der Sonne abzulesen versuche, ob es schon Zeit für Tee ist.

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