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Meinung: Kleine Männer in großen Hallen

Von Pascale Hugues, Le Point

Was ist das, ein großer Mann?“, wollen zwei sehr kleine Männer wissen, und ihre dem grauen Himmel zugewandten Gesichter wirken neben der majestätischen Fassade des Pariser Panthéons noch viel winziger. Es ist eine kindliche, eine sehr direkte und klare Frage, die eines Morgens im Pariser Oktoberregen plötzlich in der Luft liegt. Eine Frage, die so simpel ist, dass ich noch nie über sie nachgedacht habe. Sie fordert eine plausible Antwort. Verlegen greife ich zu dünnen Erklärungen: die Präsidenten der Republik, Schriftsteller, Weise … all diese Leute sind hier bestattet. „Ah“, platzt mein Älterer heraus, entzückt, dieser Ruhmespyramide einen großen Mann seiner Wahl hinzufügen zu dürfen: „Solche wie Zidane!“ „Oh“, entfährt es dem Jüngeren, der jetzt natürlich seinen Bruder übertrumpfen muss: „Und Gott!“

Wir beschließen, die Frage nach dem Wert des Menschen auf dem Friedhof von Montparnasse zu vertiefen. Der Lageplan am Eingang präsentiert eine reichhaltige Auswahl großer Männer. Ein mathematisch anmutendes Raster bringt Ordnung in den Dschungel der Gräber. Die Toten, große und weniger große, sind handverlesen, klassifiziert und minutiös gewertet. Wir entscheiden uns für Heinrich Heine (Abteilung 27, Nummer 54), und Stendhal (Abteilung 30, Nummer 72). Ein großer Deutscher, ein großer Franzose. Die familiäre Quote ist berücksichtigt, den nationalen Empfindlichkeiten wird Rechnung getragen.

Vor uns betritt ein Paar aus England den Friedhof. Enttäuscht, weil sie im Herzen von Paris keinen großen Untertan Ihrer Majestät ehren können, nehmen sie mit den Brüdern Goncourt vorlieb (das Rätsel dieser Wahl habe ich bis heute nicht gelöst), samt einem Abstecher zu den Offenbachs.

Wir begeben uns sicheren Schrittes zu Heinrich Heines kleinem weißen Marmorgrab in der zweiten Reihe der zentralen Allee. Eine gewisse Judith ehrt ihn mit rosa Filzstift auf einem Teelicht: „In Erinnerung an einen großen Dichter.“ Gegenüber logiert François Truffaut. Auf seinem Grab hat ein Untröstlicher ein kleines rotes Feuerwehrauto aufgestellt, mit der Aufschrift „Fahrenheit 451“.

Auf der Suche nach Stendhal treffen wir auf ein Mausoleum aus schwarzem Marmor, das wie ein Leuchtturm aus einem Meer von Begonien emporragt. Eine Sonne aus geschmolzenem Gold beleuchtet das Grab von Dalida, einer beliebten Sängerin, die 1984 Selbstmord beging. Ihr wirklicher Name: Jolanda Gigliotti, eine laszive Ägypterin, deren gesäuselte Romanzen tausende französische Kinder in den Schlaf gewiegt haben. Sie liegt in Abteilung 18, Nummer 7, den Toiletten gegenüber, neben dem verwahrlosten Grab der Familie Schmidt, nicht weit entfernt von der Kameliendame, deren wirklicher Name Alphonsine Plessis war. Unter einem großen roten Regenschirm summen zwei Homosexuelle „Paroles, paroles“. Der eine kommt aus Lwow, der andere aus Moskau, in der UdSSR war Dalida offenbar eine große Dame.

Die Engländer suchen derweil Zerstreuung bei Alfred Vigny. Und wir immer noch Stendhal. Ein vernachlässigter Berlioz begegnet uns, das Gesicht an einen Topf verwelkter Chrysanthemen gelehnt. In einer der Alleen haben der Russe und der Ukrainer ihr Glück gefunden: Vor dem Grab der Startänzerin Ljudmila Tscherina tanzen sie wie echte Kosaken, werfen die Beine in die Luft, die Arme vor der Brust verschränkt. „Rosen, Rosen“, jubelt der Moskauer, „frische Rosen, nicht aus Plastik. Sehr, sehr teuer.“ Der Preis steht für Russlands Größe.

Die Kleinen suchen derweil im Eingang der eleganten Grotte eines Pariser Fürsten Schutz vor dem Regen. „Man könnte Rudi Völler hier beerdigen“, schlägt der eine vor. „Aber Schröder im Panthéon, das wäre noch besser“, meint der andere.

Schließlich geben wir die Suche nach Stendhal auf. Wir vergessen Zola und beschließen, dass Edgar Degas den Umweg durch den Regen nicht lohnt. Am Ausgang des Friedhofs plakatiert ein Zeitungskiosk den Toten des Tages: „Christopher Reeve gestorben.“ Sein richtiger Name: Superman. Ein großer Mann, so viel ist sicher.

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