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Autor Matthias Kalle.

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Kolumne: Der Irrsinn im Fußball macht gute Laune

Fußball ist komplettirre, verrückt und geisteskrank, findet Matthias Kalle. Und deshalb freut er sich auch über den Sieg der Italiener gegen die deutsche Elf. Weil sie dem Fußball all diese Attribute zurückgegeben haben.

Als ich am Donnerstagabend, pünktlich vor „Waldis EM Club“, den Fernseher ausschaltete, hatte ich gute Laune, und als ich am Freitagmorgen aufwachte, hatte ich auch gute Laune. Ich hatte gute Laune beim Frühstück und auf dem Weg zur Arbeit, ich hatte gute Laune, als ich im Büro ankam und die Tageszeitungen las und ich habe jetzt immer noch gute Laune, während ich diese Kolumne schreibe.

Alle Menschen, denen ich seit Donnerstagabend begegnet bin, dachten, ich müsste furchtbar schlechte Laune haben, schließlich ist ja die deutsche Mannschaft im Halbfinale gescheitert, sie werden nicht Europameister, wieder nicht, vielleicht werden sie nie wieder Europameister. Ich hätte mich tatsächlich gefreut, aber mit meiner Laune hat das alles nichts zu tun, obwohl ich am Donnerstagnachmittag irre schlechte Laune hatte.

Zuerst sah ich am Bahnhof Friedrichstraße all die Leute, die auf dem Weg zur Fanmeile waren – alkoholisierte Männer mit Tagesfreizeit, Deutschlandtrikots spannten über ihren Bäuchen, ihre Freundinnen wirkten durch schwarz-rot-goldene Blumenketten auch nicht unbedingt hübscher und das Gröhlen der Zeilen „Superdeutschland!“ gab der ganzen Szene etwas zutiefst Lächerliches. Als ich dann mit dem Fahrrad nach Hause fahren wollte, war das Fahrrad kaputt – es stand in einem Fahrradständer, war angeschlossen, aber jemand (alkoholisierte Männer mit Tagesfreizeit?) muss so dagegen gesprungen sein, dass das Vorderrad einer acht gleicht. Die Bremsen sind hinüber, das Schutzblech ist ab, ich musste mit dem 200er Bus fahren, jeder, der gegen 18 Uhr mit dem 200er Bus fahren muss, weiß, was das bedeutet.

Unser Kolumnist freut sich - aber damit ist er ziemlich allein:

Aber dann sah ich Andrea Pirlo und Antonia Cassano und Mario Balotelli, vor allem Balotelli, und trotz allem dachte ich da: Leider cool. Und ich dachte, wenn die deutsche Mannschaft gegen irgendwen in diesem Turnier rausfliegt, dann bitte gegen diese Italiener. Lieber ausscheiden gegen ein Team, dass von zwei Irren und einem Genie angeführt wird, als im Finale gegen den spanischen Beamtenfußball zu verlieren. Tja, und so ist es dann ja auch gekommen.

Das EM-Halbfinale Italien gegen Deutschland in Bildern

Ich find das nicht schlimm (das mit meinem Fahrrad ist schlimm). Ich find das eher interessant. Interessant, weil dieses Halbfinale dem Fußball das Unberechenbare, das Verrückte, das Besondere wieder gegeben hat. Das macht zum einen die Niederlage der deutschen Mannschaft erträglicher – zum anderen tut es dem Fußball gut: Wahnsinn siegt. Warum nicht? Ausgerechnet Italien – diese Mannschaft, die in der Vergangenheit langweiligen, hässlichen Fußball gespielt hat und deren Spieler im Vorfeld der Europameisterschaften vor lauter Wett- Korruptions- und Manipulationsvorwürfen ihrer eigentlichen Aufgabe kaum nachgehen konnten.

Bilder von trauernden Deutschen und feiernden Italienern

Ausgerechnet Italien hat mit Andrea Pirlo den Spieler des Turniers – ein großer Melancholiker, der in einer Art Todesverachtung seinen Elfmeter gegen England schoss; ein Stratege, ein Künstler, ein Analytiker – also einen, dem man gerne zuschaut, an dessen Aktionen man sich einfach freuen muss, und zwar ganz egal, welchem Land man sonst die Daumen drückt. Ähnliches gilt für Cassano, der im Prinzip den ganzen Tag dummes Zeug erzählt, der dann aber auf dem Platz Sachen machen kann, die man noch nie gesehen hat.

Und dann Balotelli. Der Komplettirre. Der Verrückte. Der Geisteskranke. Der mit seiner Pose nach seinem zweiten Tor, als er sein Trikot auszog und seine Muskeln zeigte, das Bild dieser Europameisterschaft schuf – weil er damit dem Fußball das Komplettirre, das Verrückte, das Geisteskranke zurück gab, nachdem es die Spanier versteckt hatten und alle Welt meinte, das müsse wohl so sein.

Muss es nicht. Und das kann einem auch in der Niederlage gute Laune machen.

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