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Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin. Sie war unter anderem Chefredakteurin von "impulse".

© Mike Wolff

Kolumne: Ein Zwischenruf zu Scheinriesen

Das Bundesverfassungsgericht ist die Institution, die bei den Deutschen das höchste Ansehen genießt. Doch das Gericht droht, zum Scheinriesen zu werden.

Das Verfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung zur Euro-Rettung seine Grenzen offenbart. Eingezwängt zwischen europäischem Recht und der Realität der Finanzmärkte hat es am Ende einem Projekt vorläufig zugestimmt, hinter dessen Vereinbarkeit mit der deutschen Verfassung nach wie vor Fragezeichen stehen. Die Entscheidung zeigt: Auch die höchste Instanz der deutschen Nachkriegsdemokratie ist dabei, sich zu verzwergen. Die meisten Bürger dieses Landes sehen im Verfassungsgericht die glaubwürdigste Institution auf deutschem Boden. In Wahrheit aber erodiert der Einfluss des Gerichts in dem Maße, in dem der europäische Einigungsprozess voranschreitet. Die Bundesbank, der Bundespräsident, die Kirchen, die Gewerkschaften: Sie alle haben aus unterschiedlichen Gründen ein ähnliches Schicksal erlitten. Heute denkt niemand mehr, dass die Gewerkschaften die Arbeiterschaft vertreten. Kaum jemand würde den Kirchen noch eine große Rolle für die Ausbildung eines verantwortungsbewussten Bürgertums zuweisen. Und die Bundesbank gleicht in diesen Tagen dem Dorf von Asterix und Obelix: hübsch laut und mutig, aber wirkungslos. Das Verfassungsgericht ist übrig geblieben – und genießt sein Ansehen doch ebenfalls weit über seine tatsächliche Bedeutung hinaus. Das höchste Gericht lebt immer weniger aus eigener Autorität als aus der, die ihm zugebilligt wird. Es ist ein Scheinriese. Charismatische Führungspersonen können diese Aushöhlung überspielen. Je wichtiger aber die Person wird, die ein Amt ausübt, desto größer wird auch die Gefahr für das Amt selbst. Auch das haben alle Institutionen erfahren müssen, die in den vergangenen Jahrzehnten schon an Gewicht in der demokratischen Gesellschaft verloren haben: die Kirchen, die Gewerkschaften, die Bundesbank, und zuletzt erst der Bundespräsident. Auch das Verfassungsgericht wird hier keine Ausnahme machen. Institutionen leben auf Dauer nicht durch Personen, sondern durch ihre eigene Autorität. Das Urteil vom vergangenen Mittwoch lässt ahnen, welche Aufgaben nach der Krise auf Deutschland, auf Europa warten.

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