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Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Sünnet“ heißt „Beschneidung“

Wann haben Sie zuletzt mit jemandem über Vorhäute diskutiert? Bei mir ist es ziemlich lange her. Genau genommen kann ich mich gar nicht erinnern, ob ich überhaupt schon mal mit jemandem über Vorhäute diskutiert habe, ich bin nicht einmal sicher, ob „Vorhäute“ der korrekte Plural ist. Man hat ja nur eine. Oder eben keine.

„Beschneidung“ heißt auf Türkisch „Sünnet“. Das weiß ich, weil in den türkischen Läden in meiner Kreuzberger Straße derzeit gelegentlich über Vorhäute diskutiert wird. Dass ein Kölner Landgericht die rituelle Beschneidung unmündiger Jungen als Körperverletzung gewertet hat, finden meine türkischen Nachbarn gelinde gesagt komisch.

Yükzel, der junge Betreiber eines Spätkaufs in der Parallelstraße, erzählte mir mit glänzenden Augen von seiner eigenen Beschneidung im Knabenalter: „Es ist wie eine Hochzeitsfeier! Geschenke! Verwandte! Sie ziehen dir ein Prinzenkostüm an! Sie setzen dich auf ein Pferd! Du bist der König des Tages!“

Nebenan in der türkischen Bäckerei erfuhr ich, dass die Beschneidung früher gleich im Festsaal vorgenommen wurde, vor den Augen aller Gäste. Der Bäckereiinhaber, bei dem der Ritus schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt, hat von seiner eigenen Beschneidung noch Fotos. Sie zeigen einen schreienden kleinen Jungen, dessen Arme und Beine von lächelnden Verwandten festgehalten werden. „Wie ein Hammel!“, warf leicht angewidert die Frau des Bäckereiinhabers ein. Ihren eigenen Sohn haben die beiden auch beschneiden lassen, allerdings schon vor der Feier, im Krankenhaus, wie es heute üblich ist. Auch der Enkel werde natürlich beschnitten, versicherten sie mir. Wenn nicht in Deutschland, dann eben in der Türkei. Große Sorgen macht den beiden das Kölner Urteil nicht.

Überhaupt ist mir aufgefallen, dass in türkischen Läden nicht halb so leidenschaftlich über Vorhäute diskutiert wird wie in deutschen Zeitungen. Offenbar messen Männer, die eine Vorhaut haben, ihr deutlich mehr Bedeutung zu als Männer, die keine haben. Der „Focus“ hat nach dem Kölner Gerichtsurteil sofort eine Meinungsumfrage in Auftrag gegeben, derzufolge 56 Prozent aller Deutschen die Beschneidung aus religiösen Gründen ablehnen. Man könnte meinen, die Deutschen hätten religiöse Gefühle für ihre Vorhäute.

Ein deutscher Bekannter aus meiner katholischen Heimatregion hat mir einmal ein Foto von seiner Taufe gezeigt. Es zeigt einen schreienden kleinen Jungen, dessen Arme und Beine von lächelnden Verwandten festgehalten werden. Ich weiß noch, dass ich das Foto ein bisschen komisch fand, gleichzeitig aber das Gefühl hatte, die Situation nicht richtig beurteilen zu können, weil ich selbst als kleiner Junge nicht getauft wurde. Dafür wurde ich beschnitten. Das klingt jetzt kompliziert, ist es aber nicht. Was die Taufe angeht, wollten meine Eltern nicht über meinen kindlichen Kopf hinweg entscheiden. Was die Beschneidung angeht, folgten sie der Empfehlung eines Arztes. Beides habe ich ganz gut verkraftet. Ich habe nie unter Phantomschmerzen gelitten. Ein vollwertiges Leben ohne Taufschein und Vorhaut ist möglich.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist weltweit jeder dritte Mann beschnitten. 56 Prozent der Deutschen mögen das komisch finden, aber 56 Prozent der Deutschen sind ja auch nur 0,66 Prozent der Weltbevölkerung. Wenn 0,66 Prozent der Weltbevölkerung komisch finden, was 33 Prozent der Weltbevölkerung normal finden, nennt man das auf Türkisch „Azinlik“. Auf Deutsch bedeutet das „Minderheit“.

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