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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

© promo

Kolumne "Meine Heimat": Der Rechtsstaat zeigt sein wahres Gesicht

In Deutschland bekommen wir vor Augen geführt, dass Gewaltverbrechen gegen Menschen mit Migrationshintergrund trotz oder gerade wegen der Behörden unbehelligt möglich waren. Und alle zucken nur mit den Achseln.

Ein Freund brachte den Schinken zurück, den er am Wochenende gekauft hatte. Der Grund der Rückrufaktion war, dass bei der Herstellung etwas schieflief. Dann las ich einen Artikel über die Pannenserie der Fluggesellschaft. Schließlich dachte ich an unseren neuen Flughafen. Es scheint, dass es das Schicksal von deutschen Großprojekten ist, dass sie zuerst nicht vom Acker kommen, länger brauchen, bis sie fertig sind, und schließlich viel mehr kosten als vorgesehen. Willkommen im edlen Klub der Elbphilharmonie und von Stuttgart 21, lieber Willy- Brandt-Flughafen.

Das ist ärgerlich, weil diese Projekte zuerst künstlich klein gerechnet werden, der Nutzen dafür riesengroß und am Ende sich beides ins Gegenteil verkehrt. Das rüttelt gewaltig an meinem Vertrauen gegenüber den Institutionen, aber ich kann mit diesen Unterlassungen, Fehlern, Schlampereien und Versäumnissen mehr oder weniger gelassen umgehen. Niemand hat das mit Absicht verdaddelt, vermutlich hat man gedacht, dass das schon irgendwie gut gehen würde.

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Was ist aber, wenn nach und nach durchsickert, dass hinter Unterlassungen, Versagen und Schlampereien System steckt? Leute, die Leute kennen, begehen Verbrechen, die von staatlichen Stellen bezahlt wurden. Behörden schotten sich voneinander ab, um ihre Hoheitsgewalt zu bewahren, anstatt die Aufklärung von Gewaltverbrechen in den Mittelpunkt zu stellen. Das Problem, das die Organisation bekämpfen soll, wird mit Mitteln der Organisation unterstützt, um den Zweck der Organisation – nämlich dieses Treiben zu bekämpfen – aufrechtzuerhalten. Zu kryptisch?

Bildergalerie: NSU-Untersuchungen bringen Berliner Innensenator in Bedrängnis

Stellen Sie sich vor, in Spanien, unserem Lieblingsurlaubsland, hätten drei Spanier zehn Jahre lang Deutsche getötet. Den amtlichen Stellen wäre bekannt, dass an einem Tatort ein Agent des spanischen Geheimdienstes anwesend war. Behörden hätten Beweismittel vernichtet, eine Kontaktperson des Terrortrios wäre Mitarbeiter des Geheimdienstes. Die Ermittlungen des Untersuchungsausschusses im spanischen Parlament würden systematisch von verantwortlichen Politikern an der Aufklärung behindert. Was würde passieren? Es gebe eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, der Botschafter würde einbestellt, die deutschen Medien würden über die Scheindemokratie und Scharlatanerie der spanischen Demokratie berichten.

Aber in Deutschland, wo wir tagtäglich vor Augen geführt bekommen, dass Gewaltverbrechen gegen Menschen mit Migrationshintergrund trotz oder gerade wegen der Behörden unbehelligt möglich waren, erntet man nur ein Achselzucken. Das erfüllt mich mit einem heiligen Zorn. Unsere Kanzlerin versprach den Angehörigen bei der Gedenkveranstaltung lückenlose Aufklärung. Was diese aber bekommen, ist ein Offenbarungseid des Staates, und das sichere Gefühl, dass Dinge, die man im Rechtsstaat Deutschland für unmöglich hielt, an der Tagesordnung waren, und wirklich nichts, rein nichts mehr unmöglich ist.

NSU ist unser 11. September, nur will das noch niemand wahrhaben. Oder, wie mein Vater sagen würde: „Bilenler söylemez, söyleyenler bilmez“ – die Wissenden reden nicht, die Redenden wissen nicht.

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