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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": Ganz warm ums Herz

Sich ein Stück Anatolien bewahren und trotzdem eine gute Deutsche sein: Geht das, fragt sich unserer Kolumnistin Hatice Akyün. Na klar, ganz gut sogar.

Ich habe mich mit dem Wort Heimat beschäftigt. Für mich ist Heimat eine Umgebung, ein Lebensstil, Beziehungen und Zugehörigkeiten, die sich überlebt haben. Ein emotional aufgeladener Bezugspunkt, aus dem heraus man sich definiert.

Mir fallen die Treffen der Vertriebenenverbände ein, wo alte Menschen Breslaus, Königsbergs, Ostpreußens und Schlesiens gedenken, aber kaum einer würde die Koffer packen und zurückwollen. Ich denke auch an ein Oktoberfest, das ich in den USA erlebt habe, blau-weiße Fahnen, Marschmusik, Sauerkraut. Deutsch hat dort keiner gesprochen, und trotzdem fühlten sich alle ihrer deutschen Heimat verbunden, die es allerdings auch in Deutschland so nie gab. Ich muss an meine Eltern denken. Meine Mutter, die mich so erzogen hat, dass ich jeden anatolischen Landwirtschaftsbetrieb führen könnte. Mitten in Duisburg lebt sie ein Stück ihrer alten Heimat. Mein Vater, der mit seiner stoischen Art Dinge durch die türkische Brille sieht und mir sehr früh nahebrachte, dass alles mindestens zwei Seiten hat. Beide haben sich ihr Anatolien bewahrt und sind trotzdem gesetzestreue Staatsbürger, ohne dass sie ihren bundesdeutschen Kindern je ihre Lebensweise als die einzig selig machende aufgedrängt hätten.

Meine Heimat ist die Zechensiedlung in Duisburg. Die kleinen, verwohnten Häuser, die grauen Straßen, die verfallenen Industriebauten. So richtig schön ist das für die meisten nicht, aber mir wird es immer ganz warm ums Herz, wenn ich dort bin. So kann man vielleicht sagen, dass Heimat etwas ist, das einen geprägt hat – und wenn es gut läuft, man mit allem ausgestattet wird, um sich woanders einbinden zu können.

Mich packen manchmal Zweifel, was ich von meiner Heimat meiner Tochter weitergeben könnte. Das dichte Beziehungsgeflecht meiner Kindheit mit Verwandten, Freunden und Nachbarn kann ich ihr nicht bieten. Auch ich bin nur ein Kind meiner Zeit, die Flexibilität so in den Vordergrund gerückt hat, dass Überschaubarkeit nicht mehr gegeben ist.

Also wie funktioniert Heimat in der Metropole jenseits von Folklore? Vermutlich dadurch, dass man der Versuchung widersteht, das Vergangene zu verklären, und indem man Beziehungen am Wert und nicht am Preis bemisst. Nur so entsteht etwas Eigenes, das irgendwann in ein neues Heimatgefühl mündet. Heimat ist etwas, an dem man Anteil nimmt. Und genau so wenig wie Heimat etwas Statisches, Einheitliches ist, ist es auch nichts Unveränderbares.

Was mich froh stimmt, ist, wie schnell sich ein Heimatgefühl ändern kann. In nur einer Generation kann aus dem Heimatland ein Urlaubsland werden – oder umgekehrt. Wenn ich vergleiche, wie meine Mutter mich erzogen hat und wie ich meine Tochter erziehe, kommt es mir vor, als lägen Jahrhunderte dazwischen. Dabei handelt es sich gerade einmal um vierzig Jahre. Das Gefühl Heimat werde ich wohl in dieser Kolumne nicht mehr vollständig erklären können. Aber ich werde weiter versuchen, meiner Heimat ein neues Gesicht zu geben. Oder wie es mein Vater sagen würde: „Sorma kisinin aslini, sohbetinden belli eder“ – frage niemanden nach seiner Herkunft, er wird sie in seinen Erzählungen offenbaren.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.

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