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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": Heiß auf die Fußball-EM

Unsere Kolumnistin will sich die Vorfreude auf die EM nicht von Bedenkenträgern vermiesen lassen.

Mein Kalender ist bereinigt, neue Termine werden nicht angenommen, der Spielplan hängt an der Wand, und die Vorberichterstattung hat mich längst angesteckt. Von niemandem lasse ich mir den Höhepunkt meines Jahres vermiesen. Meine Freude ist so groß, dass ich schon eine Woche vor dem Start darüber schreibe, bevor die männlichen Kollegen hier wieder das Wort übernehmen. Ich bin heiß auf die Fußballeuropameisterschaft.

Wie können Sie nur, werden Sie jetzt vermutlich sagen. Was ist mit den Menschenrechten in der Ukraine, den Ausschreitungen in den Stadien, den braunen Ultrafans und der Kinderarbeit der Sportartikelhersteller in Billiglohnländern? Sie haben recht. Boykottieren Sie diese Marken, stellen Sie die Politiker und Sportfunktionäre an den Pranger und engagieren Sie sich für Menschenrechte in der Ukraine. Aber nicht als Betroffenheitsritual kurz vor dem Ereignis, sondern ernst gemeint und auf Dauer. Ein Freund sagte mir, dass sein Vater von 1941 bis 1943 lieber in Charkiw Fußball gespielt hätte, als dort mit vielen anderen zu bluten. Wer nicht begreift, was es heute bedeutet, in dieser Stadt Fußball zu spielen, der hat die Idee von Europa nicht begriffen. Dem gehört die Rote Karte.

Ich kam 1972 in das Land des frisch gekürten Europameisters. 1976 sah ich im Schwarz-Weiß-Fernsehen, wie Uli Hoeneß beim Elfmeterschießen im Endspiel gegen die CSSR den ersten Fußball in die Erdumlaufbahn schoss. Wir Türken konnten uns sehr schnell mit dem deutschen Fußball identifizieren, weil das Spiel eine universelle Sprache spricht, Leidenschaft zulässt und in Regeln kanalisiert ist, an die sich alle halten müssen. Beim Fußball braucht das Genie die Mannschaft, und die wiederum ist ohne den Funken der Genialität des Einzelnen am Ende aufgeschmissen.

Das vorläufige deutsche EM-Aufgebot:

Ja, ich drücke ganz fest die Daumen, dass unsere aktuelle Mannschaft Europameister wird. Mit Namen wie Boateng, Gomez, Gündogan, Khedira, Klose, Özil und Podolski steht diese Mannschaft ganz selbstverständlich für mein Land, so wie Hummels, Höwedes, Lahm, Müller, Neuer und Schweinsteiger. Und ich werde mir die Wangen schwarz-rot-gold anmalen und die deutsche Fahne schwenken. Nicht, weil ich sonst nichts anderes hätte, was mir an meinem Land gefällt, sondern weil unsere Symbole der Demokratie nicht denen gehören sollen, die sie mit Füßen treten.

Mein Verstand wird sich drei Wochen lang nur mit Raumaufteilung, Viererkette, Doppelspitze, Eckenverwertung, Zweikampfverhalten, Manndeckung, Flügelspiel, Torgefährlichkeit, Kontern, Tunneln, Pressing, Aufsetzer, kurze Ecke, Rückpass, Distanzschuss und Siegeswillen beschäftigen. Gewiss, damit lässt sich das reale Leben nicht ausblenden und damit lassen sich auch keine Probleme lösen. Aber mit zu fiebern und dabei zu sein, hebt die Stimmung und erlaubt uns, ausgelassen zu sein. Oder wie mein Vater sagen würde: „Ne sagciyim ne solcu, futbolcuyum futbolcu“ – weder bin ich rechts noch links, ich bin Fußballer, Fußballer.

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