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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": In der Halbzeit, ohne Pause

Unsere Kolumnistin fragt sich zur Halbzeit ihres Lebens: wie soll es weitergehen mit ihr und ihrer Generation? Soll sie um ihr privates Glück oder um Solidarität und Gemeinsinn kämpfen?

Dass das Alter ein relativer Begriff ist, wurde mir gerade erst wieder klar. Meine Schwester, die nur zwei Jahre älter ist als ich, ist Oma geworden. Nach der ersten Freude über das neue Familienmitglied überkam mich allerdings der Schock. Als ob man nicht schon genug damit zu tun hätte, von alleine alt zu werden. Ich meine die Verdrängung des Alters nicht nur gelegentlich, sondern mit Inbrunst. Klar, im Drogeriemarkt nehme ich schon die Creme für die reife Haut in die Hand und frage mich, was da wohl alles drin ist. Der Aufwand, geistig und körperlich in Form zu bleiben, nimmt zumindest in meiner Wahrnehmung deutlich zu.

Nein, ich bin kein Babyboomer, ich kam erst nach dem Pillenknick auf die Welt. Weder die 68er-Studentenrevolte noch die Antiatomdemonstrationen und Friedensbewegung habe ich aktiv mitgemacht. Deshalb wurde ich erst spät politisiert, ohne Parteibindung, weil meine Generation sich nicht gerne festlegen lässt. Ich bin die „Ellenbogen-Generation“, die von 16 Jahren Kohl-Regierung geprägt wurde und deshalb politisiert ist, weil die Vorstellung der Yuppie-Bewegung, anything goes, sich nicht erfüllt hat.

Hier stehe ich nun, mit allen mühsam antrainierten Kultur- und Arbeitstechniken, in einem Alter, in dem Engagement und Energie noch reichlich vorhanden sind, aber man sich eben noch nicht in dem Alter befindet, in dem man sich im Ehrenamt nützlich macht. Es fehlt die Zeit und das Geld, sich das überhaupt leisten zu können.

Irgendwie habe ich es auch verpasst, mich beizeiten so verbiegen zu lassen, dass ich mit dem Etikett „Frau“ oder „Migrant“ einen guten Quotenposten hätte abgreifen können Seilschaften, die mich die Karriereleiter hochtragen, hatte ich auch nie. Die Frage lautet: Wie richtet man sich ein zwischen den Stühlen? Von unten drücken die jungen, durchgestylten und konturlosen Jedermänner, die mit Bachelor und Auslandssemester ausgestattet sind und ultraflexibel daherkommen – und direkt vor mir steht eine Generation, die gerade noch geordnete Verhältnisse vorfand und nun schnurstracks auf die Rente mit 67 zusteuert.

Darüber sitzt die Generation mit den Spitzenpositionen, die in einer Zeit geprägt wurde, als „der Russe“ für das Böse stand und Globalisierung ein Wort aus Science-Fiction-Romanen war. Und meine Generation, die es mal besser gelernt hat, ist so damit beschäftigt, ihr Schöner-Wohnen-Leben zu verteidigen, dass nicht mehr genug Energie für soziales und politisches Engagement übrig bleibt.

Was mache ich nun? Fahre ich die Ellenbogen aus und kämpfe für mein Eigenheim mit Vorgarten und Kugelgrill? Oder besinne ich mich auf jene Zeit, in der Solidarität und Gemeinsinn noch nicht als Sozialromantik belächelt wurden?

Die Statistik sagt, ich habe Halbzeit, was meine Lebensspanne angeht. Damit aber etwas bleibt, muss sich meine Generation einbringen. Ich möchte lieber etwas bereuen, was ich getan habe, als etwas, was ich nicht getan habe. „Alter“ kann ich mir noch nicht leisten. Und so lange das nicht anders ist, muss ich versuchen, jung zu bleiben. Oder wie mein Vater sagen würde: „Ya oldugun gibi görün, ya da göründügün gibi ol“ – zeig dich so, wie du bist, oder sei so, wie du dich gibst.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.

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