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Kommentar: Der Hunger Ägyptens nach Freiheit

Der Aufstand in Ägypten ist weit mehr als eine Sozialrevolte. Die meist jungen Demonstranten fordern nicht nur Jobs und erschwingliche Lebensmittel, sondern auch politische Reformen, Pluralität und Freiheit.

Auch die Ägypter haben es jetzt satt. Ein „Tag des Zorns“ folgt mittlerweile dem anderen. Zehntausende ziehen gegen Hosni Mubarak durch die Straßen, ignorieren Prügel, Tränengas, Gummigeschosse und Handschellen. Nach dem Freitagsgebet haben die Facebook-Aktivisten das ganze Land zu Großdemonstrationen aufgerufen. Immer mehr Menschen schreien sich ihren Frust aus dem Leib, das Regime hingegen schweigt und lässt knüppeln. Niemand weiß, was momentan politisch hinter den Kulissen vorgeht. Nur der Aktienindex befindet sich in freiem Fall, während die Zahl der Verhafteten iranische Dimensionen anzunehmen beginnt.

Wie immer diese historische Konfrontation im Land der Pyramiden ausgeht, die politischen Tage von Hosni Mubarak sind gezählt. Was Mitte Januar in Tunesien begann, hat mit Ägypten das Herz der arabischen Welt erreicht. Jeder vierte Araber ist Ägypter, die Hauptstadt Kairo die einzige Weltmetropole der Region. Sein schieres demografisches Gewicht, aber auch sein kulturelles und intellektuelles Potenzial macht das Land mit seinen 80 Millionen Einwohnern zum Gravitationszentrum unter den 22 arabischen Nationen. Und wenn nach Tunis jetzt auch in Kairo der nächste Langzeitherrscher vor dem eigenen Volk die Flucht ergreift, werden alle Potentaten und Präsidenten des Orients in Panik geraten.

Denn die Ursachen für den Frust der Menschen sind in allen Staaten ähnlich: Autoritäre Regime und fehlende Mitsprache der Bürger, allmächtige Sicherheitsapparate, korrupte Justiz, hohe Arbeitslosigkeit, wachsende Armut. In keinem Teil der Welt sind die Menschen so jung und die Herrscher so alt wie im Nahen und Mittleren Osten. Allein in Ägypten kommen jedes Jahr 1,2 Millionen Einwohner hinzu. Ein Drittel von ihnen lernt weder lesen noch schreiben, die Hälfte muss inzwischen pro Tag mit weniger als zwei Dollar auskommen, ohne Chance auf ein würdiges Leben.

Dennoch ist der Aufstand in Ägypten weit mehr als eine Sozialrevolte. Die meist jungen Demonstranten fordern nicht nur Jobs und erschwingliche Lebensmittel, sondern auch politische Reformen, Pluralität und Freiheit. Sie wollen nicht länger in einem Staat leben, der zerfressen ist von Misswirtschaft und Raffgier. Sie wollen ihre Meinung sagen und politisch mitmischen, wollen garantierte Grundrechte und eine echte Wahl haben, wenn sie ihre Stimme abgeben.

Noch kann niemand sagen, wie es in Ägypten weitergeht, wo es in einem Jahr steht. Ob es zur schwersten Repression kommt wie seit 2009 im Iran, ob es in Richtung Islamische Republik geht unter der Regie der Muslimbrüder, oder ob das Land mit einem frei gewählten Präsidenten den schwierigen Weg in eine offene Gesellschaft suchen kann. Die drei Präsidenten Nasser, Sadat und Mubarak haben eine innenpolitische Wüste hinterlassen. Sechzig Jahre haben ihre Apparate das politische Geschehen monopolisiert. Was an Oppositionsparteien übrig blieb, ist klein und zerstritten. Einzig die Muslimbruderschaft verfügt über eine gut organisierte Mitgliederbasis, hält sich aber bei den Protesten der Facebook-Generation auffällig abseits.

Und so fehlt dem Volksaufstand bisher ein politischer Hoffnungsträger. Vielleicht fällt diese Rolle Mohammed el Baradei in den Schoß. Am Freitag will der Friedensnobelpreisträger sich zum ersten Mal an den Demonstrationen in seiner Heimat beteiligen. Er wäre der richtige Mann für einen Machtwechsel am Nil ohne Gewalt, Bürgerkrieg und Chaos.

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