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Kommentar: Leben lassen

Nobelpreis für Robert Edwards: Damit würdigt das Stockholmer Komitee 32 Jahre nach der Geburt des ersten "Retortenbabys" Louise einen Reproduktionsmediziner. Das lässt hoffen. In Deutschland aber haben es Paare mit unerfülltem Kinderwunsch schwerer als anderswo.

Nicht immer sind die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees für die Allgemeinheit leicht nachvollziehbar. Da geht es mitunter um vertrackte Molekularbiologie oder bizarre Quantenphänomene. In diesem Jahr ist das anders. Der Medizin-Nobelpreisträger Robert Edwards hat die Methode der künstlichen Befruchtung entwickelt. Das Bild von Louise, dem ersten "Retortenbaby", ging um die Welt. So hat Edwards Millionen von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch zum Elternglück verholfen – und damit Kindern zum Leben. Ein ganz handfester Nutzen für die Menschheit steht also im Vordergrund.

Der Nobelpreis hat aber noch eine weitere Dimension, denn er würdigt mit der Reproduktionsmedizin ein Fachgebiet, das bisher von manchen als anrüchig angesehen wurde. Hier wollen Mediziner in den Lauf der Natur eingreifen, dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen, als Arzt Schicksal spielen. In gewisser Weise tun sie das auch, und genau das ist die Aufgabe der Medizin: Leiden zu lindern und Leben zu ermöglichen. Auch Paare mit unerfülltem Kinderwunsch sind mit einem Makel behaftet, scheint doch etwas bei ihnen „nicht zu stimmen“.

Vermutlich haben Vorurteile wie diese jenen Coup der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erleichtert, mit dem 2004 die Kostenerstattung der künstlichen Befruchtung drastisch heruntergefahren wurde. Lautstarke Proteste von kinderlosen Paaren, die eher im Stillen leiden, waren eben nicht zu befürchten.

Seit 2004 werden nun nur noch drei Befruchtungsversuche von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, und zwar nur noch zu 50 Prozent und nur bei verheirateten Paaren. Danach zahlen die Kassen gar nichts mehr.

Der „Erfolg“ der Sparmaßnahme ließ nicht auf sich warten. Die Geburten durch künstliche Befruchtung gingen drastisch zurück, im Jahr kommen dank der „Reform“ nun etwa 8000 Kinder weniger zur Welt. Und das in einem Land, das bei der Geburtenrate ohnehin Schlusslicht in Europa ist. Wenn es ein Beispiel für kurzsichtige Sozialpolitik gibt: Hier ist es. Indem man die Zahl der zukünftigen Beitragszahler verringert, sägt man schließlich auf dem Ast, auf dem man sitzt. Ganz abgesehen davon, dass Paare auf Kinder verzichten müssen, weil sie sich eine künstliche Befruchtung nicht leisten können.

Inzwischen haben in Bundesländern wie Sachsen und Sachsen-Anhalt zaghafte Reparaturarbeiten eingesetzt. Geringverdienern wird hier aus Steuermitteln geholfen – immerhin. Trotzdem bleibt es schleierhaft, warum eine konservative und nach eigenem Ermessen familienfreundliche Regierung diesen Reformmurks nicht schleunigst ändert. Die Finanzierung der künstlichen Befruchtung ist jedoch nicht die einzige Reformbaustelle. Auch eine grundsätzliche Reform der rechtlichen Regelungen zur Reproduktionsmedizin ist überfällig, wie das Urteil des Bundesgerichtshofes zur Präimplantationsdiagnostik vor kurzem deutlich machte. Die rechtlichen Regelungen, vor allem im Embryonenschutzgesetz, sind so überholt wie schwammig. Die Leidtragenden sind vor allem die Frauen.

Bestes Beispiel dafür sind die Mehrlingsschwangerschaften nach künstlicher Befruchtung. Sie sind eine erhebliche Belastung für die Mutter und mit Risiken für Mutter und Kind verbunden. In anderen Ländern ist es längst möglich, unter mehreren Embryonen jenen auszuwählen, der die höchste Chance für eine erfolgreiche Schwangerschaft bietet.

In Deutschland ist diese Auswahl nach der vorherrschenden Rechtsauslegung nicht erlaubt. Stattdessen werden mehrere Embryonen eingesetzt. Das Ergebnis: Jede vierte bis fünfte Geburt nach künstlicher Befruchtung resultiert aus einer Mehrlingsschwangerschaft, in Schweden etwa sind es nur drei bis fünf Prozent. Übrigens wählt auch die Natur aus: Bei einer Frau von 35 Jahren reift jeder zweite Embryo im Mutterleib nicht bis zur Geburt heran.

Natürlich sind Fragen des Embryonenschutzes von großer ethischer Tragweite und berühren grundsätzliche Einstellungen zum Leben. Aber das kann nicht bedeuten, dass die Politik ihnen genauso grundsätzlich ausweicht. Humane Regelungen sind möglich, viele europäische Länder machen es vor.

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