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Kommentar: Sozialstaatsdebatte: Mitte ohne Maß

Der Sozialstaat wird nicht verändert – auch weil die Mittelschicht an die staatliche Fürsorge angeschlossen ist. Das hemmt den Reformwillen.

Der hysterische Streit, der in den vergangenen Wochen über Deutschland lag, neigt sich dem Ende zu. „Wir sind die Partei, die Maß und Mitte hat“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Union und meint damit ein ganzes Land. Ihr Vizekanzler Guido Westerwelle sagt: „Ich habe nie einen Hartz-IVEmpfänger kritisiert.“ Soll es das schon gewesen sein? Die viel beschworene „Sozialstaatsdebatte“ ist verebbt, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Wer eine Diskussion darüber erwartet hatte, ob ein intervenierender Wohlfahrtsstaat nach der Blaupause der 70er Jahre noch tragfähig ist, wird enttäuscht.

Dafür gibt es gute Gründe. Mit seiner Wir/Sie-Unterscheidung (hier die arbeitenden Steuerzahler, dort die nicht arbeitenden Transferempfänger) hat Westerwelle nämlich eines überdeckt: Nicht nur eine Unterschicht aus Erwerbslosen und Alleinerziehenden lebt vom Versorgungsstaat, auch die soziale Mitte in Deutschland ist aufs Engste mit dem Kreislauf der Umverteilung verbunden.

Darauf hat indirekt die FDP aufmerksam gemacht – mit dem Argument, dass ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung für soziale Leistungen aufgewendet wird. Der Eindruck, als werde mit der Summe von 777,2 Milliarden Euro aus Steuergeldern und Sozialbeiträgen allein ein gesellschaftliches Prekariat unterstützt, ist allerdings falsch. Laut Sozialbericht der Bundesregierung flossen im vergangenen Jahr rund 48 Milliarden Euro in die steuerfinanzierte Grundsicherung.

Vielmehr hält der Staat auch die soziale Ordnung in der Mitte aufrecht. Allein die eigentlich beitragsfinanzierte Rentenversicherung muss vom Bund mit 70 Milliarden Euro jedes Jahr gestützt werden. In die Kranken- und Arbeitslosenversicherung fließen jeweils knapp neun Milliarden Euro – und das nicht nur krisenbedingt.

Ob Riester-Rente, Pendlerpauschale oder Kurzarbeitergeld: Auch in der Mittelschicht produziert ein etatistisches Fürsorgesystem Gewinner und Verlierer – und in der Mitte fühlt man sich von einem Zurückfahren des Sozialstaats im Zweifelsfall sogar noch stärker bedrängt als in der Unterschicht. Die breite Ablehnung der Krankenkassen-Kopfpauschale unter Arbeitnehmern, obwohl sie sozial gestaltet werden könnte, ist ein Indiz dafür. Nach einer Allensbach-Analyse vom Dezember 2009 sind in der mittleren Schicht 43 Prozent der Meinung, dass der Staat die soziale Sicherung organisieren soll, in der Unterschicht sind es nur neun Prozent mehr.

Nicht die Kritik am angeblich leistungsfeindlichen Hartz-IV-System ist also das größtmögliche Tabu. Vermieden wird viel eher die Frage, vor welchen Herausforderungen die arbeitende Mitte steht. Auch für den faktischen Kombilohn, der Geringverdienern offen steht, sobald die schwarzgelbe Koalition die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV erweitert hat, werden am Ende die Steuerzahler aufkommen müssen.

Man strengt sich an, und bekommt dafür etwas: Nicht nur am unteren Ende der Gesellschaft ist dieser Mechanismus teilweise außer Kraft gesetzt, auch in der Mittelschicht gilt dieses Versprechen nicht länger ungebrochen. Eine tiefgreifende Debatte darüber, was das staatliche Gemeinwesen noch zu leisten vermag, müsste deshalb am ehesten dort beginnen.

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