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Kommentar: Von der Unfähigkeit zum Mit-Leiden

Winnenden als Ausdruck einer Kluft: Nie war die Erwachsenenwelt so weit von der Einsamkeit der Heranwachsenden entfernt

Der Amoklauf ist ein altes Phänomen, Schoolshootings nicht. Etwa 100 Schulamokläufe sind seit 1974 weltweit gezählt worden. Fast 200 Lehrer und Schüler sind Opfer sinnlos um sich schießender junger Gewalttäter geworden. Über die wissen wir, dass sie fast immer männlich sind, Zugang und Neigung zu Waffen haben, massive Gefühle der Zurücksetzung empfinden, auffällig unauffällig sind, aus den „besseren“ Elternhäusern kommen, dass sie viele Stunden allein mit Gewaltspielen am Bildschirm verbringen. Wir wissen, dass ihr „Amok“ sich langsam aufbaut. Rückblickend sind zahlreiche Vorwarnungen erkennbar, die vorher übersehen wurden.

Warum der 19-jährige Robert Steinhäuser in Erfurt oder der 17-jährige Tim K. in Winnenden am Ende in mörderischer Raserei gezielt um sich geschossen haben, das wissen und verstehen nach eigenem Eingeständnis die Wissenschaftler, die den Schulamoklauf erforschen und untersuchen, trotzdem nicht. Denn die einzelnen Zuordnungen, auch ihre Kombinationen – männlich, Waffen, introvertiert, psychische Erkrankung, Videospiel – gibt es in der Jugendkultur unserer Zeit tausend-, ja millionenfach ohne den furchtbaren finalen Gewaltausbruch, der unschuldige Heranwachsende, ihre Lehrer und den Täter selbst aus dem Leben reißt. „Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht“, hat Bundespräsident Johannes Rau 2002 in seiner Gedenkrede für die 16 erschossenen Opfer in Erfurt gesagt.

In den mitleidlosen Gewalttätern, die sich vor ihren Taten manchmal im Internet inszenieren, stark und allmächtig mit den Waffen in ihrer Hand, gesichtslos verschanzt hinter schwarzen Vermummungen, würden wir gern „das Böse“ sehen, dass es eben immer gibt und sich unserem Zugriff entzieht. Wir wissen es besser. Rau hat in Erfurt auch gesagt: „Was immer ein Mensch getan hat: Er bleibt ein Mensch.“ In der coolen Verkleidung, in der Tim K. auf 14-jährige Mädchen geschossen hat, steckte ein unglückliches, rotbackiges Kind. Der Schulamoklauf orientiert sich zu offensichtlich an Bildern und Mustern unserer Gegenwart, als dass wir die Wahrheit leugnen könnten, dass dieses unfassbare Verbrechen der Gesellschaft einen Spiegel vorhält.

Denn daher kommt es: aus unserer Gesellschaft. 66 der 100 Schulamokläufe haben in den letzten zehn Jahren stattgefunden und Deutschland – unsere Nachbarländer sprechen es aus – ist mit Winnenden zum europäischen Land des Schulamoks geworden. In den USA, dem Hauptland der Schoolshootings, ist zudem die ganz gewöhnliche Gewalt stark verbreitet: Seit 1992 haben dort 451 Menschen in Schulen den Tod gefunden.

Wieder, wie nach Erfurt oder Emsdetten, fragt die große öffentliche Debatte nach den Möglichkeiten der Prävention. Wir reden über Killerspiele, Waffenrecht, Zugangskontrollen an den Schultoren und die Möglichkeiten, den einsamen Weg eines 15- oder 17-Jährigen in seinen (selbst)-mörderischen Weg frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Nun wird wieder beklagt, dass auf einen Schulpsychologen in Deutschland 16 000 Schüler, auf rund 350 000 Waffen im staatlichen Gewaltmonopol der Polizei weit über sieben Millionen im privaten Besitz kommen, dass Mobbing im Klassenzimmer weit verbreitet ist, Jungen die Bildungsverlierer geworden sind und Eltern zu wenig auf den Medienkonsum ihrer Kinder achten.

Das ist alles wahr. Wir müssten es nur jeden Tag ernst nehmen. Die große Debatte nach Winnenden ist so unvermeidlich wie unzureichend. Sie trägt uns über die ersten Tage des Entsetzens hinweg, das ein solcher Einbruch der Gewalt in den Schutzraum Schule auslösen muss. Sie ist aber auch Ersatz für das, was vorher nicht getan wurde, damit die Schule wirklich ein beschützender Lebensraum für Kinder und Jugendliche sein kann. Sie ist ein Trost für die Erwachsenen, aber keine Hilfe für die Kinder, die in einer Gesellschaft mit täglichen Gewaltbotschaften aufwachsen.

Wenn die Frage nach Prävention zur Leitschnur wird, dann setzen wir nur fort, was die eigentliche Quelle und Ursache für die Kinder- und Jugendprobleme in unseren Gesellschaften ist. Kinder, um es kurz und einfach zu machen, müssen viel zu viel und viel zu früh funktionieren. Sie sind Objekte von Bildungsprozessen, die nach den Effizienzanforderungen der Wirtschaft reformiert werden. Objekte, wenn der Maßstab für die Schaffung von Betreuungseinrichtungen der Mobilitäts- und Flexibilitätsdruck auf ihre Eltern ist. Objekte einer Konsum- und Werbeindustrie, die ein kolossaler Anschlag auf den Individualisierungsprozess der Heranwachsenden ist, weil sie Ansehen, Liebe, Freundschaft über Marken und Moden, Erfolg und Anerkennung über schnellen Ruhm verspricht. Ins öffentliche Visier geraten Jugendliche regelmäßig, wenn der Stör- oder Katastrophenfall eingetreten ist – wieder als Objekt, das nicht richtig funktioniert.

Eltern und Lehrer, auf die in solchen Debatten schnell mit dem Finger gezeigt wird, sind schuldlos-schuldige Akteure dieser Erziehungswelten. Noch nie haben sich so viele Eltern, so viele Lehrer um eine Erziehung bemüht, die dem einzelnen Kind gerecht wird, bei der Lob mehr zählt als Strafe, Gewalt geächtet ist und Forderung mit Förderung einhergeht. Doch täglich scheitern Eltern und Lehrer mit den besten Vorsätzen an ihrem Unvermögen. Das liegt im Ausnahmefall an fehlendem Verantwortungsbewusstsein oder Lieblosigkeit. Für den Normalfall, den Alltag von Eltern, Lehrern und Erziehern trifft ein aus der Mode gekommener Satz zu: Doch die Verhältnisse, die sind nicht so …

Mörder sind Amokläufer wie Tim K. geworden, weil sie die Empathie, die Fähigkeit zum Mitfühlen mit anderen verloren oder nie gelernt haben. Unverschuldeter Empathieverlust und schuldhafte Gleichgültigkeit zwischen den Generationen ist jedoch ein Merkmal unserer Zeit. Noch nie war die Erwachsenenwelt von der unvermeidlichen Einsamkeit der Heranwachsenden so weit entfernt. Der Vorkriegsvater, die Nachkriegsmutter, die 68er-Eltern haben ihre Erziehungsfehler gemacht. Aber sie hatten emotionalen Anschluss an den Sohn, der mit 13 geraucht und getrunken, die Tochter, die sich heimlich die Pille beschafft hat. Lange war man zu schnell mit der Ohrfeige, dann mit dem ständigen Über-alles-Reden zur Hand.

Migration, Internet und die kinderarme Demografie schaffen eine seltsame neue Kluft. Es ist, als ob der alte Jugendschutz nun für Erwachsene gilt, und vorzugsweise für die kinderlosen, während die Heranwachsenden mitten im Sturm stehen. Hamburger Abiturienten wissen natürlich, was Abziehdelikte sind, ihre Onkel und Tanten nicht. Alle Berliner Kinder und Jugendlichen, die der „Tagesspiegel“ 2008 in einer Sonderbeilage zu Wort kommen ließ, kennen in irgendeiner Form Gewalt. Kein Kind kann sich den Spannungen und Anstrengungen des multikulturellen Zusammenlebens entziehen, für viele Erwachsene findet es im Salon oder Kino statt. Chatrooms sind Jugenddomäne und Rätsel für Erwachsene, wie die Leichtgläubigkeit gegenüber der angeblichen Vorankündigung von Tim K. im Extremfall zeigt. Kaum ein Erwachsener versteht den Online-Jargon gut genug, dass er unterscheiden könnte, was jugendliche Angeberpose, was das Abdriften in echte Kaltblütigkeit ist. Die Dialoge in den Magersucht-Foren sind so erschreckend wie die Texte von „Frauenarzt“ oder „Bushido“, vor allem aber sind sie Erwachsenen unbekannt. Die Feuilletons regen sich auf, wenn ein Rapper schwulenfeindlich wird; dass derselbe längst zuvor gewalttätig mädchenfeindlich gesungen hat, entgeht ihnen oder wird sogar damit gerechtfertigt, dass die Girlies darauf abfahren. Die sogenannten Killerspiele sind zur Beruhigung der erwachsenen Öffentlichkeit nach Erfurt unter schärferen Jugendschutz gestellt, da muss man nicht wissen, dass jeder halbwegs gewitzte Internetkonsument die harmloseren Varianten mit brutalen aufmotzen kann.

Eltern, die diese Entfernung von den Jugendwelten unter dem immensen Zeit- und Konkurrenzdruck ihrer Berufswelt kaum überwinden können, sind so überfordert wie Lehrer in den allein gelassenen und unterfinanzierten Schulen. In Kombination mit der gleichgültigen Geschwätzigkeit der Öffentlichkeit entsteht der eigentliche Riss des Verständnisses zwischen der erwachsenen Gesellschaft und der Jugend. Diese Erwachsenenwelt will für alles eine schnelle Antwort – und liefert damit das denkbar schlechteste Vorbild. Denn das Ergebnis ist stets, was Pädagogen als der dümmste Erziehungsfehler gilt: Worte und Taten fallen weit auseinander. Ein Beispiel dafür die immer wiederkehrende und stets folgenlose Debatte über die Killerspiele. Sie sind gefährlich. Bei allen sieben der in Deutschland bekannten Amokläufer der Jahre 1999 bis 2006 haben sie eine Rolle gespielt, vier von ihnen hatten sogar ein konkretes mediales Vorbild für ihre Tat. Diese Spiele schaden Kindern, auch jenen, die nicht zu Tätern werden. Das Hirn lernt, was es tut, weiß die Wissenschaft. Inzwischen ist in mehreren Untersuchungen nachgewiesen, dass die Gewaltneigung bei ständigem Umgang mit Killerspielen steigt und die Fähigkeit zum Mit-Leiden sinkt. Es ist, als ob wir unsere Kinder wissentlich unter die gefährlichen Strahlen einer Höhensonne legen, wenn diese Spiele nicht deutlich geächtet, am besten verboten werden.

Heranwachsende auf der schwierigen Suche nach der eigenen Identität haben ein hochempfindliches Sensorium für den feinen Unterschied. Viele Jugendliche hören, wenn über Metalldetektoren, Softguns oder Computerspiele getalkt wird, eine Botschaft des Misstrauens. Ja, ja, das kennen wir schon, sagen die halbwüchsigen Söhne dann, jetzt sind wir wieder schuld, weil wir zu viel am Bildschirm chillen. Dabei habt ihr doch gar keine Ahnung … Wie die feinen Unterschiede im Eifer der verbalen Gefechte unter die Räder geraten, dafür liefert das Sicherheitsthema ein Beispiel. Zwischen den amerikanischen Metalldetektoren und den Berlin-Neuköllner Wachleuten vor den Schultoren liegt eine pädagogische Welt. Die Sicherheitsmaßnahmen an vielen amerikanischen Schulen sind eine Kapitulation vor der Gewalt, die sich – vielleicht unvermeidlich – in einer täglichen Abwehr erschöpft und dabei Schüler zum Objekt ständigen Verdachts macht. Die waffenlosen Wachleute vor den Neuköllner Schulen richten sich gegen mögliche Eindringlinge von außen. Die Botschaft lautet: Wir schützen die Schüler, indem wir uns vor sie stellen. In den aufgeregten Tagen nach Winnenden reicht das Differenzierungsvermögen für die Feststellung, dass beide Konzepte keinen absoluten Schutz gegen Amokläufer bieten. Aber kaum für die Sprache, für die Haltung, mit der in Schulen Sicherheit nur gewährleistet werden kann: Sie darf nicht auf Kosten des Vertrauens gehen.

Hilfe, die wir Kindern nicht um ihrer selbst Willen geben, provoziert latent Abwehr, vor allem in der Pubertät, der unsichersten Phase des menschlichen Lebens. In den flüchtigen Debatten über Kinder und Schulen verhalten wir uns, als könnten wir die Weisheiten der großen Humanisten ebenso in den Wind schlagen wie die wunderbaren Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Erziehung ist Liebe und Vorbild, sonst nichts, hat Friedrich Fröbel gesagt. Die Metakompetenz, die wir das ganze Leben brauchen, sagt Hirnforscher Gerald Hüther, das ist Beziehungsfähigkeit. Müssen wir nicht über unsere Pisa- und leistungsgetrimmten Schulen nachdenken, wenn Hüther recht hat? Wettbewerb, sagt der Hirnforscher, begünstigt nur, dass man auf dem einmal eingeschlagenen Weg noch besser, noch schneller, noch dümmer wird. Richtiger Fortschritt entsteht nur, wen zwei sich begegnen.

Vertrauen und Vorbild sind die wichtigsten Ressourcen, auf die Kinder und Jugendliche bauen, wenn Erwachsene ihnen begegnen.

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