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Kommentar zum SPD-Parteitag: Wir sind wieder wer

Die SPD, vor zwölf Monaten desorientiert, gewinnt mit neuem Selbstbewusstsein langsam ein Verständnis von sich selbst zurück, davon, wozu und für wen sie eigentlich da ist.

Ein Jahr liegt die verheerende 23-Prozent-Niederlage der SPD zurück; dafür ist sie ziemlich gut aufgelegt. Den außerordentlichen Parteitag hatte Sigmar Gabriel angekündigt, um eine SPD zu zeigen, die wieder diskutiert und die Basis an Entscheidungen beteiligt. Zu beschließen war gestern nicht viel, das heikle Thema, die Rente mit 67, war im Vorfeld auf Kompromisse gebracht worden. Gezeigt hat sich aber etwas anderes. Die SPD, vor zwölf Monaten desorientiert, gewinnt mit neuem Selbstbewusstsein langsam ein Verständnis von sich selbst zurück, davon, wozu und für wen sie eigentlich da ist.

Die Flops und Krisen der schwarz-gelben Bundesregierung sind natürlich der wichtigste Antreiber dafür. Nichts hilft dem SPD-Vorsitzenden mehr als die seit Wochen steigenden Umfragewerte, die vor einem Jahr unvorstellbare Aussicht auf eine rot-grüne Mehrheit im Bund. Die neue Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen verdankt ihr Amt Guido Westerwelle und Angela Merkel vorerst mehr als sich selbst. Es wird sich erst zeigen müssen, ob die neuen Hochgefühle unter dem steilen Aufstieg der Grünen nicht schweren Schaden nehmen.

Aber die Bundesregierung leistet für die Wiedererweckung der SPD mehr als Umfrage-Wohlgefühle. Die Politik von Schwarz-Gelb schafft eine politische Trennschärfe, die der SPD wieder Kontur und Profil gibt, die sie selbst vermutlich binnen eines Jahres nicht hätte schaffen können. Kann man sich vorstellen, dass ohne den „Deal“ mit den großen Energieversorgern die sozialdemokratische Kritik am Energiekonzept der Bundesregierung auch nur annähernd durchschlagend wäre? Der Lobbyismus-Vorwurf an die Adresse von Schwarz-Gelb würde vermutlich antiquiert-traditionalistisch klingen, lieferte nicht Merkels Koalition laufend Beispiele dafür. Die Bundesregierung kann ihre Hoteliers nicht mehr abschütteln, die in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung einer Wahrnehmung Auftrieb gegeben haben, dass dieses Land sich zusehends in oben und unten spaltet. Die Meldung über die Fünf-Euro-Erhöhung der Hartz IV-Sätze am Tag des Sonderparteitags bestärkt die oppositionelle SPD darin, sich – ob bei Gesundheit, Energie oder Bildung – wieder als die Partei zu fühlen, die Interessen der Mehrheit gegen einen greifbaren Gegner durchsetzen will und muss.

Dieser Abstand zur Bundesregierung macht es der SPD auch leicht, Abstand zur rot-grünen SPD der Steuersenkungen, der Rentenreform, der Hartz-Reformen zu nehmen. Die Bezugsgröße sozialdemokratischen Regierungsstolzes ist nunmehr die große Koalition, die das Land mit Abwrackprämie, Kurzarbeitergeld, Sparergarantie glimpflich durch die Finanzkrise geführt hat. Wenn Gabriel die „Mehrheit“ begrifflich an die Stelle der „Mitte“ setzt, dann folgt er damit der entscheidenden Lehre aus dem 23-Prozent-Ergebnis: Die SPD kann sich ihren Platz in der Gesellschaft nicht beliebig aussuchen. Wenn die „kleinen Leute“ das Vertrauen in sie verlieren, dann kann die SPD keine Bindekraft über unterschiedliche soziale Schichten und kulturelle Milieus hinweg entwickeln. Aber „Mehrheit“ ist so unscharf wie die „Mitte“. Und wer sind die „kleinen Leute“? In der von Sarrazin ausgelösten Integrationsdebatte liegt für die SPD und ihren Vorsitzenden die paradoxe Chance, den alten sozialdemokratischen Ton neu aufzulegen: Solidarität als Grundbedingung für den Bestand eines demokratischen Gemeinwesens, die ohne Verantwortung für das eigene Leben aber nie funktionieren kann.

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