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Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine werden von Anhängern in Istanbul bejubelt.

© Reuters

Konflikt in der Türkei: Erdogan unterschätzt die Proteste

Die Proteste in der Türkei offenbaren den Grundkonflikt der dortigen Gesellschaft. Trotz aller Reformen ist Premierminister Recep Tayyip Erdogan nie über seinen Schatten gesprungen. Er meint immer noch, er müsse für seine islamisch-konservativen Anhänger gegen „die Anderen“ in den Kampf ziehen.

Der Streit um ein Bauprojekt in einem kleinen Park in Istanbul hat die Frage aufgeworfen, welches Land die Türkei eigentlich sein will. Eine Klärung dieser Frage ist bisher im Land selbst immer vermieden worden. Doch jetzt zeigt sich, dass der Mantel der staatlichen Einheit sehr dünn ist. Teile der Gesellschaft stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Das ist nicht allein die Schuld von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, auch wenn viele Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park das so sehen. Die Risse in der türkischen Gesellschaft reichen bis weit in die Zeit vor seinem Regierungsantritt im Jahr 2003 zurück; ihre Ursprünge gehen auf die Regentschaft von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk vor fast 100 Jahren zurück. Atatürk wollte aus einer islamisch und ländlich geprägten Gesellschaft fast über Nacht einen westlich-urbanen Staat machen. Doch die staatlich verordnete Modernität erschöpfte sich häufig in Äußerlichkeiten. So ging die kemalistische Elite zwar brav in die Oper. Doch in den ersten Jahrzehnten der Republik blieb die Türkei ein Ein-Parteien-Staat, ohne Opposition und ohne Demokratie. Später sorgte das Militär dafür, dass die Regierungen auf Linie blieben.

Der kemalistische Führungsanspruch erklärte die vorwiegend fromm-muslimische Bevölkerung Anatoliens zu Hinterwäldlern und Untertanen, obwohl die konservativen Türken zahlenmäßig in der Mehrheit sind. Erst als Erdogan und seine kleinbürgerlich-konservative Gefolgschaft an die Regierung kamen, war Schluss mit der Dauerherrschaft der Kemalisten. Das haben die alten Eliten dem Premier bis heute nicht verziehen.

Erdogans wirtschafts- und reformpolitische Leistungen in den vergangenen zehn Jahren sind unbestritten. In gewisser Weise ist der Aufstand im Gezi-Park sogar eine Folge seiner Reformen, denn unter Erdogans Regierung hat sich die türkische Zivilgesellschaft entfalten können wie nie zuvor.

Doch bei aller Öffnungspolitik hat Erdogan nie über seinen Schatten springen können. Nach wie vor handelt er aus der Überzeugung heraus, dass er für seine islamisch- konservativen Anhänger gegen „die Anderen“ in der Türkei kämpfen muss. Selbst als mächtigster Politiker des Landes seit einem halben Jahrhundert sieht er sich und seine Leute als Opfer.

Deshalb fällt es ihm schwer, die Aktionen der Demonstranten als Ausdruck echter Sorgen und Befürchtungen ernst zu nehmen. Und deshalb wirkt er manchmal wie ein Herrscher im Arabischen Frühling, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Erdogan sieht in der Protestbewegung eine politisch motivierte Kampagne gegen ihn und seine Partei AKP. Damit hängt es zusammen, dass Erdogans Anhänger inzwischen lautstark fordern, die Protestbewegung zu „zerquetschen“, wie es in Sprechchören in diesen Tagen zu hören ist.

Es ist wichtig für die Türkei, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Doch fast ebenso wichtig ist es für das Land, die vorhandenen Konflikte jetzt auszutragen, ob es nun um die Rolle des Islam im öffentlichen Leben geht oder um Minderheitenrechte. Die große Frage ist, ob die Türkei es schafft, gewaltfreie Kanäle für die gesellschaftlichen Streitfragen zu finden. Wenn das gelingt, wird das Land einen großen Sprung nach vorne machen. Scheitert der Versuch aber, wird die Türkei in eine noch viel tiefere Krise schlittern.

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