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Exportschlager: Deutsche Autos - wie hier von Daimler - zählen zu den begehrten Produkten in der Welt.

© dapd

Konjunktur: Warum Deutschland kein Modell für Europa ist

Die deutsche Wirtschaft hat sich schnell von der Krise erholt. Dennoch sollten sich die Euro-Länder nicht unbedingt ein Beispiel am "Modell Deutschland" nehmen - nicht nur um ihretwillen. Ein Gastkommentar.

Die deutsche Wirtschaft hat in der letzten Zeit viel Lob eingeheimst. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Einst hoch gelobte Volkswirtschaften – Irland, Spanien, Großbritannien, USA, um nur einige zu nennen – haben zu lange über ihre Verhältnisse gelebt. Im Vergleich dazu erscheint Deutschland als Hort der finanziellen Tugend: Haushalte und zurückhaltende Unternehmen haben mehr gespart als ausgegeben.

Die deutsche Volkswirtschaft wird weithin als „wettbewerbsfähig“ bejubelt. Und die schnelle wirtschaftliche Erholung in diesem Jahr scheint das „Wirtschaftsmodell Deutschland“ zu bestätigen. Man könnte annehmen, Deutschland ist der Maßstab für die EU, ein Land, dem die übrigen Länder der Gemeinschaft dringend nacheifern sollten.

Die Geschichte klingt bestechend und nicht wenige finden sie überzeugend. Dennoch stellt sich die Frage, ob sie logisch und umsetzbar ist. Deutschland rühmt sich zahlreicher Top-Unternehmen, deren Produkte mit Recht weltweites Ansehen genießen. Nichts scheint deshalb näher zu liegen, als diesen guten Ruf auf die deutsche Volkswirtschaft zu übertragen.

Es hat sich eingebürgert, Deutschland als Ganzes als „super-wettbewerbsfähig“ zu beschreiben – so als wäre es eine größere Ausgabe von Volkswagen. Der riesige deutsche Handels- und Leistungsbilanzüberschuss wird gerne als Beleg dafür angeführt, dass das Land seine Wettbewerber schlägt und sich im Kampf um Weltmarktanteile durchsetzt.

Diese Theorie klingt verführerisch. Doch in Wahrheit ist sie ein leuchtendes Beispiel für die Fallen, die Analogien bergen. Länder sind keine Unternehmen. Handelsbilanzen sind keine Gewinn- und Verlustrechungen. Und es gibt keinen Zusammenhang zwischen Produktivität und Handelsbilanzen. Gemessen an internationalen Standards mag die Produktivität der deutschen Gesamtwirtschaft hoch sein. Doch das ist nicht der Grund, warum das Land einen Handelsbilanzüberschuss erzielt. Zum Vergleich: Sowohl in Frankreich als auch in den USA ist die Produktivität höher – und beide Volkswirtschaften verbuchen ein Handelsbilanzdefizit. Entgegen der landläufigen Annahme erwirtschaftet Deutschland seinen hohen Exportüberschuss also nicht, weil die Industrie produktiver wäre als anderswo.

Woher kommt nun der hohe Außenhandelsüberschuss seit Beginn des Jahrzehnts? Leistungsbilanzen spiegeln die Differenz zwischen Einnahmen und Investitionen. Deutschland fährt Überschüsse ein, weil es als Staat weniger investiert als verdient. Angesichts der finanziellen Schwierigkeiten, in denen sich die Defizitstaaten derzeit befinden, ist es nicht verwunderlich, wenn viele daraus den Schluss ziehen, dass alle Staaten „im Rahmen ihrer Verhältnisse“ wirtschaften sollten – oder, um es anders zu formulieren: mehr wie Deutschland.

Die Maßgabe, dass sich alle Länder im Rahmen ihrer Verhältnisse bewegen sollten, mag sinnvoll erscheinen. Doch sie beinhaltet eine unüberwindbare Hürde: Sie ist grundsätzlich nicht umsetzbar. Sie verletzt eine buchhalterische Grundregel: Handelsbilanzen müssen sich weltweit ausgleichen, weil nicht jedes Land zu jeder Zeit einen Überschuss erzielen kann. Überschuss-Länder und Defizit-Länder sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Gerade weil Staaten mit Defizit mehr ausgeben als einnehmen, können andere Staaten Überschüsse erzielen – so wie Deutschland. Wirtschaftlichkeit und Verschwendung gehören zusammen. Deutschland kann nur so umsichtig handeln, weil andere es nicht tun.

Aus diesem Grund kann Deutschland unmöglich Vorbild für alle Staaten gleichzeitig sein. Richtig ist: Irland, Griechenland und andere müssen umsichtiger – oder deutscher – wirtschaften. Aber sie können es nur schaffen, wenn Deutschland im Gegenzug weniger strikt mit seinen Staatsfinanzen umgeht. Die Verantwortlichen in Deutschland bestreiten diesen Mechanismus manchmal. Sie akzeptieren zwar, dass die Welt nicht kollektiv das „Modell Deutschland“ kopieren kann – weil die Welt keinen Bilanzüberschuss im Handel mit sich selbst erzielen kann. Doch sie weisen gerne darauf hin, dass dieses Ziel in der Eurozone durchaus zu erreichen sei – weil diese im Handel mit dem Rest der Welt sehr wohl einen Überschuss erzielen kann. Um die offizielle deutsche Position anders zu formulieren: Die Mitglieder der Eurozone mit Bilanzdefiziten können diese reduzieren, ohne dass Deutschland auf seinen Überschuss verzichten muss.

Haben die Verantwortlichen in Deutschland Recht? Die Antwort lautet: Theoretisch ja, aber in der Praxis wahrscheinlich nein. Das praktische Problem ist, dass die Volkswirtschaft der Eurozone zweieinhalb mal so groß ist wie die chinesische. Wenn südeuropäische Länder ihre Defizite beseitigen wollen, ohne dass die deutschen Bilanzüberschüsse leiden, muss der Rest der Weltwirtschaft die dadurch ausgelöste riesige Veränderung in der Handelsbilanz der Eurozone – von einer Ausgeglichenheit zu einem großen Überschuss – bezahlen. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass der Rest der Welt das so einfach verkraften würde. Einige Regionen – wie Afrika – sind zu klein, andere – wie die USA – sind zu verschuldet und wieder andere – wie Asien – sind genauso exportabhängig wie Deutschland.

Letztendlich gibt es zwei Gründe, weshalb das unreformierte Deutschland kein Vorbild für die Eurozone sein sollte. Der erste hängt mit der Nachfrageseite zusammen. Eine Eurozone, die sich in eine größere Version der deutschen Volkswirtschaft verwandelt hätte, würde unter chronischer Schwäche der Binnennachfrage leiden. Sie wäre zu abhängig von einer möglicherweise instabilen Exportnachfrage, um nachhaltig wachsen zu können. Zum zweiten könnte eine solche Entwicklung von den Herausforderungen der deutschen Wirtschaft auf der Angebotsseite ablenken. Denn ungeachtet der Stärke der ökonomischen Erholung 2010 ist der längerfristige Wachstumsausblick eher bescheiden.

So modisch es auch sein mag, Deutschlands Exportstärke unter dem Schlagwort „Wettbewerbsfähigkeit“ abzubuchen, so irreführend ist es. Der große Handels- und Leistungsbilanzüberschuss ist nämlich ebenso ein Spiegel des schwachen Binnenmarktes. Hätten Verbraucher mehr Zuversicht oder hätten Unternehmen mehr im Inland investiert, würde Deutschland nicht solch große Überschüsse erzielen. Der Glaube, dass die deutsche Volkswirtschaft schlechter dastehen würde, wenn sie ihre Bilanzüberschüsse zurückführt, ist ein Irrglaube: Ein kleinerer Handelsbilanzüberschuss könnte sogar Zeichen einer stärkeren Binnenwirtschaft sein.

Der Autor ist Senior Research Fellow am Centre for European Reform in London. Aus dem Englischen übersetzt von Simon Frost.

Philip Whyte

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