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Meinung: Kontinental-Konserven

Wir neuen Europäer sind zu Reformen bereit

Von Janusz Reiter Ein Jahr nach der Erweiterung steht die Stimmungslage in den neuen Mitgliedstaaten in einem auffälligen Kontrast zu der in der AltEU. Anders als von vielen im Westen erwartet, wären die Neuen bereit gewesen, die europäische Verfassung zu unterstützen. Nicht etwa, weil sie sich von ihr besonders angesprochen fühlten. Die Einstellung zur Verfassung spiegelt vielmehr, in den alten so wie auch in den neuen Ländern, die Einstellung zur EU selbst wider. Und die scheint im Osten positiver zu sein als im Westen. Keine Rede mehr von Identitätsverlust, keine Angst vor der westeuropäischen Übermacht in der Wirtschaft – in Polen wie in den anderen neuen Mitgliedstaaten weckt Europa mehr Hoffnungen als Ängste.

Die gescheiterten Volksbefragungen in Frankreich und den Niederlanden haben die Hoffnungen zwar gedämpft. In beiden Fällen handelte es sich auch um eine Art Misstrauensvotum gegen die EU-Neulinge und die Erweiterung. Umso größer aber die Unterstützung für Tony Blair, der es sehr geschickt verstanden hat, die Wahrnehmung seiner Politik innerhalb weniger Tage zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Während man in ihm am Anfang denjenigen gesehen hat, der durch seine sture Haltung maßgeblich zum Scheitern des Haushaltskompromisses beigetragen hat, galt er schon bald eher als der mögliche Retter in der Not.

Den neuen Mitgliedern ist Blair freilich die Erklärung schuldig, was er zu tun gedenkt, um sie vor den Folgen der Haushaltsblockade zu schützen. Die reichen Mitglieder können sich den Streit leisten, die armen nicht. Bleibt die Union ohne Haushalt, dann müssen die neuen Mitglieder ihre ohnehin schon reduzierten Erwartungen an die EU als unerfüllbar betrachten. Gelingt es Blair aber, einen Ausweg aus der Haushaltskrise, sei es nur für die östlichen EU-Länder, vorzuschlagen, so kann er sich ihrer Sympathie und Zustimmung ziemlich sicher sein. Nicht etwa weil sie eine Neigung zum wirtschaftlichen Neoliberalismus verspürten. Sie haben selbst noch viel zu tun, um ihre Bürokratie abzubauen und die Arbeitsmärkte zu liberalisieren. Aber anders als viele westeuropäische Länder sehen sie darin eher eine Chance als ein Verhängnis.

Das so genannte kontinentale Sozialmodell hat den östlichen EU-Mitgliedern wenig Attraktives zu bieten. Die Frage, die sie stellen, ist nicht, wie man Wohlstand am besten verteilt, sondern wie man ihn am schnellsten schafft. Und diese Kompetenz trauen sie eher dem angelsächsischen Modell zu. Um in die Rolle der neuen Antreiber oder Mittler der EU schlüpfen zu können, fehlt es den EU-Neulingen noch an Wirtschaftskraft und politischer Erfahrung. Aber sie sind neuen Ideen aufgeschlossen, keineswegs an der Konservierung des Ist-Zustands interessiert – und spielen dadurch bereits eine Rolle in der EU. Ein Beispiel für ihre flexible Haltung ist die Steuerpolitik. Dank der neuen Mitglieder hat sich der Reformdruck auf die alten EU-Staaten verschärft.

Die Unterstützung für liberale Wirtschaftsreformen wird von vielen in Westeuropa als ein Zeichen des Desinteresses an der politischen Integration Europas missverstanden. Für Polen und wohl die meisten der neuen EU-Mitglieder trifft das nicht zu. Was sie brauchen, ist nicht nur finanzielle, sondern auch politische Solidarität. Diese sollte sich zum Beispiel in einer geschlossenen Haltung gegenüber dem großen Nachbarn Russland äußern. Diese Erwartung – und Sorge – richtet sich vor allem an Deutschland.

Die Union darf sich nicht in ein Lager der Wirtschaftsreformer und eins der politischen Integrationisten teilen. Europa braucht beides, liberale Reformen und politische Integration. Ob es gelingt, beide Richtungen in Einklang zu bringen, hängt zum Teil auch von Deutschland ab. Schließt es sich dem „Reformlager“ an, wird die falsche Alternative „reformieren oder integrieren“ verhindert.

Der Autor ist Präsident des Zentrums für Internationale Beziehungen (CSM) und ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland.

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