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KONTRA Punkt: Diktatur des Rationalismus

Über antireligiöse Ressentiments in der Beschneidungsdebatte.

Machen wir ein Experiment. Ihnen liegt das Porträtfoto eines guten Freundes vor. Nun fordert Sie jemand auf, mit einer Stecknadel durch die Pupille des linken Auges zu stechen. Tun Sie es? Die meisten werden wohl Nein sagen. Irgendetwas hält sie zurück, etwas Irrationales, eine Art Voodoo-Glaube. Dabei spricht, rational betrachtet, doch nichts dagegen. Man sticht einfach ein Loch in ein Stück Pappe, mehr nicht. Dem Auge des Freundes wird dadurch garantiert kein Leid zugefügt.

Rationalisten leben in einer einfachen, aber auch eintönigen Welt. Alles Okkulte, Rituelle, Fromme und Mythische lehnen sie ab. Sie sehen sich in der Tradition der Aufklärung, verteidigen den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Den geistigen Fortschritt verkörpern für sie die Arbeiten von Charles Darwin, Sigmund Freud, Karl Marx, Friedrich Nietzsche. Wer an einen Gott glaubt, spotten sie, könne auch an ein Spaghettimonster glauben.

Wer sich durch die Kommentarlawine liest, die das Kölner Beschneidungsurteil ausgelöst hat, stößt auf viele Varianten einer solchen Religionsverspottung. Im Namen eines individualistischen Humanismus werden kollektive Verschiedenheiten und die Rechte, die sich aus ihnen ergeben, bekämpft. In einer Diktatur säkularer Rationalität haben kollektive Differenzen offenbar kaum eine Chance. So führt geistige Fortschrittlichkeit zur gesellschaftlichen Ausgrenzung.

Das Ideal der Rationalisten sieht in etwa so aus: Selbstbestimmt hat sich der Mensch aller Traditionen, Bräuche und Rituale entledigt. Allein sein Verstand leitet ihn. Praktizierte Religiosität wird allenfalls geduldet, sollte aber im öffentlichen Raum möglichst unsichtbar und lautlos sein und auf Missionstätigkeiten verzichten. Das Normative folgt dem Vernünftigen.

Tut es das? Noch ein Gedankenexperiment: Was spricht dagegen, dass eine Tierart ausstirbt? Solange das Öko- und Biosystem intakt bleibt, eigentlich nichts. Tausende von Tierarten sind schon ausgestorben, so ist nun mal der Lauf der Dinge. Das einzige Gegenargument, das sich allerdings nicht aus der Vernunft ableiten lässt, lautet: Vielfalt ist ein Wert an sich. In biblischer Metaphorik könnte man von der Bewahrung der Schöpfung reden. Wirklich fehlen uns die Säbelantilope oder der Schwarzfußiltis nicht. Aber irgendwie fühlen wir uns ärmer ohne sie. Obwohl wir sie nicht brauchen, vermissen wir sie.

Für den Rationalisten sind das Sentimentalitäten. Aber wenn Vielfalt ein Wert an sich ist, sind vielleicht auch menschliche kollektive Verschiedenheiten ein Wert an sich. Karfreitagsprozessionen, die Weltabgewandtheit der Amischen, die Niederwerfungen der Buddhisten, okkulte Stammespraktiken, indianische Regentänze. Die Liste lässt sich verlängern.

Wer kollektive Verschiedenheiten will und fördern will, muss ihren Mitgliedern besondere Rechte verleihen. Er muss ihnen zugestehen, an Dinge zu glauben, die er selbst für irrational hält. Auferstehung, Wunderheilung, den Messias, die Verbindlichkeit Heiliger Schriften. Gegner der Beschneidungspraxis behaupten oft, allein das Kindeswohl im Blick zu haben. Aber der Rigorismus, mit dem sie dieses mutmaßliche Kindeswohl verabsolutieren und gegen jede Güter- und Normenabwägung immunisieren, entlarvt sie als jene kühlen Rationalisten, die den Wert der Vielfalt auf dem Altar der Humanität zu opfern bereit sind. In manchen Fällen wirkt das ebenso bigott wie die Verve, mit der sich CSU-Männer im Kampf gegen fromme Muslime auf Frauenrechte berufen.

Kollektive Vielfalt statt rationalistischer Einfalt: Das bedeutet, einen Pluralismus auch unverständiger Ausdrucksformen von Menschen anzustreben. Das kann, ja muss zu Reibereien und Konflikten führen. Die Vernunft mag sich beleidigt fühlen. Und vielleicht geht es in der anderen, der rationalen Welt tatsächlich humaner zu. Aber es ist auch die, in der Menschen mit Stecknadeln durch Bilder von Augen stechen und jene verlachen, die dabei Skrupel empfinden. Dummen Skrupel.

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