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KONTRA Punkt: Obama und die Stasi

Der US-Präsident und seine Geheimdienste: Was erklärt den Furor?

Moral ist die Macht der Machtlosen. Amerika mag weltweit Kriege führen, Diktatoren stürzen, Drohnen entsenden, die besten Universitäten haben, Nobelpreise abräumen, in Hollywood und Silicon Valley kulturelle und technologische Maßstäbe setzen – doch das Land ist skrupellos, egozentrisch, unilateral. Wir dagegen beachten das Völkerrecht, schützen das Klima, manipulieren nicht an Genen herum und geben jedem Terroristen ein faires Gerichtsverfahren.

Das ist, nur wenig überspitzt, die Sicht der Dinge hierzulande kurz vor dem ersten Besuch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Berlin. Wieder einmal hat sich Deutschland moralisch munitioniert. Kein Wunder: Amerikas Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, dem Land gelingt es offenbar recht gut, die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise zu überwinden. Ganz anders Europa: Die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Euro bleibt gefährdet, die Demografie verheißt Ungemach. Wer aber den direkten Vergleich nicht besteht, sucht gern Zuflucht in einem kompensatorischen Narrativ. Amerikas Amoral soll Europas Rückständigkeit ausgleichen. Die Debatte über die NSA-Affäre (National Security Agency) liefert dafür ein Beispiel.

Von Bespitzelung ist die Rede, Überwachung, Stasi-Methoden. Dazu dies: Die Aufklärungsprogramme geschehen auf Grundlage des Paragrafen 215 des „Patriot Acts“. Von Anfang an waren Mitglieder des Kongresses eingebunden und informiert, die Praktiken sind, nach allem, was man weiß, gesetzeskonform.

Zentral allerdings ist der Unterschied zwischen Datensammlung und Überwachung. Ob Telefonate, E-Mail-Verkehr oder Kommunikation via sozialer Netzwerke: Der NSA ist lediglich die Recherche darüber erlaubt, wer wann mit wem von wo aus kommuniziert. Sollte das zu einem begründeten Verdacht führen und zu einer Gefährdung der nationalen Sicherheit, kann sich der Geheimdienst an ein Gericht wenden, dem „Foreign Intelligence Surveillance Court“, das ihm nach Abwägung aller Sicherheits- und Freiheitsrechte die Erlaubnis erteilen kann, Inhalte der Kommunikation einzusehen. Eine Überwachung privater Daten ohne Gerichtsbeschluss ist faktisch ausgeschlossen.

Laut amerikanischem Verfassungsgerichtsurteil („Smith vs. Maryland“, 1979) ist ohnehin nur der Inhalt etwa von Telefonaten vom Recht auf Privatheit geschützt, nicht aber der Standort oder die angerufene Telefonnummer. Während sich folglich die Datensammelleidenschaft der Amerikaner durchaus beklagen lässt, sollten Europäer zumindest zugestehen, dass ihre eigenen Geheimdienste in puncto Überwachung nicht wesentlich anders arbeiten. Auf diese Weise ist es ihnen (und der NSA) in den vergangenen Jahren gelungen, Terrorzellen ausfindig zu machen und Dutzende von Anschlägen zu vereiteln. Für den oft befürchteten Missbrauch der Daten gibt es kein einziges Indiz.

Der „New York Times“-Kolumnist und dreifache Pulitzerpreisträger Thomas Friedman verteidigt die Geheimdienstoperationen noch aus einem anderen Grund: Gerade weil er die offene Gesellschaft schätze und erhalten wolle, stehe bei ihm die Effizienz der Terrorbekämpfung ganz weit oben. „Ich glaube, wenn es ein weiteres 9/11 gäbe – oder Schlimmeres, einen Anschlag mit nuklearem Material –, könnte das zu einem Ende der offenen Gesellschaft führen, wie wir sie kennen.“ Damit nun kein Missverständnis entsteht: Es gibt viele Fragen in Bezug auf die NSA-Programme, die meisten davon sollten öffentlich beantwortet werden. Und es ist richtig, wenn Angela Merkel den amerikanischen Präsidenten darauf anspricht. In einer Demokratie müssen die Bürger eine Vorstellung von den Strukturen und Arbeitsweisen der Geheimdienste haben, die sie schützen sollen. Und Privates muss zumindest so lange privat bleiben, wie von der Privatperson nicht mit großer Sicherheit eine Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen ausgeht.

Doch ausgerechnet in Obama jemanden zu vermuten, der mit Stasi-Methoden friedliche Deutsche bespitzeln lässt, grenzt an Verleumdung und zeugt von Ignoranz. Wenn es stimmt, dass Moral die Macht der Machtlosen ist, steht es um dieses Land offenbar noch schlechter als vermutet.

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