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KONTRA Punkt: Über die Grenzen säkularer Toleranz

Beschneidungsdebatte: Multikulti braucht eine Offenheit fürs Religiöse.

Das ist das Ideal: Wir wollen aufgeklärt sein, human und tolerant. Wir kümmern uns um Minderheiten, kämpfen gegen Xenophobie und nehmen am Karneval der Kulturen teil. Was aber, wenn zwei dieser Ideale in Konflikt miteinander geraten – das Humane und die Toleranz etwa oder das Aufgeklärte und die Anti-Diskriminierung? Dann zerbröselt das Weltbild. Dann wird aus der Wahl zwischen gut und böse eine zwischen falsch und verkehrt.

Es könnte sein, dass die Diskussion über das Kölner Beschneidungsverbotsurteil für die deutsche Linke ebenso bedeutsam wird, wie es die über den Pazifismus vor dem Kosovokrieg war. Damals reifte unter Seelenpein die Einsicht, dass sich auch derjenige schuldig machen kann, der ein absehbar großes Menschenrechtsverbrechen nicht verhindert. Es ging um das Konzept der humanitären Militärintervention. Heute heißt die Gewissensfrage, ob eine vermeintliche Stärkung des Kindeswohls die Kriminalisierung von in Deutschland lebenden Juden und Muslimen rechtfertigt.

Der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani drückt es in seiner Kritik an dem Urteil noch drastischer aus: „Die Mehrheitsgesellschaft will Juden und Muslimen einreden, sie seien alle – mehr oder weniger – krank, sie hätten sozusagen einen Schuss weg und würden es nur nicht merken.“

Für religiöse Organisationen ist der Fall klar. Der Zentralrat der Juden, der Zentralrat der Muslime, die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche lehnen das Kölner Urteil ab. Für antireligiöse Organisationen ist der Fall auch klar. Konfessionslose, Atheisten, Humanisten und die Laizisten in der SPD begrüßen es. Und die Parteien? Interessant sind vor allem die Reaktionen bei Grünen, Piraten und Linken.

Prominente Grüne haben sich auf die Seite der Minderheiten, also Juden und Muslime, gestellt. Claudia Roth, Cem Özdemir, Volker Beck und Renate Künast beklagen vor allem die integrationspolitischen Konsequenzen, das Abdrängen in die Illegalität. Hingegen ist von Katja Kipping und Bernd Riexinger, den neuen Chefs der Linken, nichts zu hören. Die an sich religionsfernen Piraten wiederum diskutieren das Thema zwar in einigen Foren, aber es spricht Bände, dass der klügste Beitrag dazu von der Ex-Funktionärin Marina Weisband stammt („Das Ende vom Glied“).

Die Zurückhaltung in Kreisen derer, die ansonsten nicht eben meinungsschwach sind, hat ihren Grund. Für rund vier Millionen Muslime und 110.000 Juden, die in Deutschland leben, hat das Urteil unmittelbare Folgen. Viele von ihnen nehmen es als Eingriff in ihre fundamentalen Rechte wahr.

Kein Wunder, dass sie es in ihre Diskriminierungserfahrungen einreihen. Wären die Gastarbeiter aus islamisch geprägten Ländern auch dann gekommen, wenn sie gewusst hätten, dass die Pflege ihrer Traditionen mit dem deutschen Gesetz kollidiert? Wollen Juden, die in Deutschland leben, in Festtagsreden künftig weiterhin als Beweis dafür herhalten müssen, dass Deutschland sich gewandelt hat, während sie sich gleichzeitig wegen des Beschneidungsverbots gezwungen sehen, vor einem „Ende des Judentums in Deutschland“ zu warnen?

Hoffentlich dämmert es langsam zumindest einigen instinktiven Unterstützern des Kölner Urteils, dass sich Toleranz und Multikulti manchmal nur durch eine größere Offenheit für Religiöses verwirklichen lassen. Gerade die Muslime in Deutschland definieren sich stark durch ihre Religion. Das fremde Andere in seiner Fremdheit stehen zu lassen, zu ertragen und zu respektieren, ist die wahre Integrationsleistung.

Über die Gretchenfrage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ könnte es folglich in der deutschen Menschen- und Bürgerrechtsbewegung zur Spaltung kommen. Einerseits in jene, die die diskriminierenden Folgen ihrer Religionsaversion im Namen einer höheren Moral in Kauf nehmen. Andererseits in jene, die bestrebt sind, immer wieder neu einen Ausgleich zu finden zwischen Humanität und Diskriminierungsverbot. Entscheiden muss sich am Ende jeder selbst.

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