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Angela Merkel, Norbert Röttgen.

© dpa

Kontrapunkt: Auf Sicht regieren im dichten Nebel

Umweltminister Röttgen will raus aus der Atomkraft, weil er sie für gefährlich hält, vielleicht auch, weil er Ministerpräsident werden will. Verantwortliche Politik braucht aber Weitsicht und Mut, schreibt Lorenz Maroldt im "Kontrapunkt".

Die Bundeskanzlerin hat die 11. Atomgesetznovelle außer Kraft gesetzt, ihr Umweltminister Artikel 3 des Kölschen Grundgesetzes: Es ist noch immer gut gegangen – das gilt für den Rheinländer Röttgen nicht mehr. Er will raus aus der Atomkraft, so schnell wie möglich, weil er sie für höchstgefährlich hält, ersatzweise auch deshalb, weil er rein will in die Staatskanzlei, als Ministerpräsident. Da gibt’s weniger Scherereien mit Becquerel und Biobauern.

Es wäre eine verdienstvolle Aufgabe für Historiker und Völkerkundler, mal zu erklären, wann, wie und warum die Atomkraft eigentlich konservativ wurde. Jedenfalls hatten schon vor dreißig Jahren Mitglieder der Jungen Union ihre Gebetsbücher mit „Kernkraft - ja bitte!“-Stickern beklebt, und die Papis hielten auf ihren Opels neben dem Foto von FJS die Botschaft parat, dass Atomkraftgegner mit kaltem Hintern überwintern. Auf der anderen Seite des Spektrums galt die Atomkraftgegnerschaft als selbstverständlich links (für die Maoisten allerdings mit Ausnahme der Werke in China), und grün dann später sowieso. Atomenergie war hemmungs- und hoffnungslos ideologisiert. Jetzt ist sie nur noch gefährlich, sogar für CDU-Mitglieder.

Röttgen, der Tempo machen will, lässt sich aus den eigenen Reihen nicht mehr überholen. Fraglich ist ohnedies, ob die anderen mitrasen wollen. Der Regierungssprecher jedenfalls kanzlerte Röttgens Bemerkung, in zehn bis fünfzehn Jahren könne das letzte Werk vom Netz gehen (was für den Minister so bald wie möglich ist), als „eine Meinung“ ab. Röttgen selbst hatte einleitend relativiert: „Wenn es nach mir ginge…“. Er weiß, das ging es bisher fast nie.

Was Röttgen weiß und Merkel auch, ist, dass selbst die größte Aufregung, die schlimmste „German Angst“, bald schon wieder verdrängt sein kann von anderen Ereignissen wie Terroranschlägen, Finanzkrisen, Bahnstreiks oder auch königlichen Hochzeiten, Frauenfußballweltmeisterschaften, unehelichen Ministerkindern; zur Not tut’s auch eine gefälschte Doktorarbeit.

So spielt die eine auf Zeit, dem anderen läuft sie davon: Röttgens Stunde ist jetzt, Merkels kann wiederkommen. Was aber von beiden fehlt, das ist der Eindruck, dass es um mehr geht als um eine gute Stunde. „Auf Sicht regieren“, diese Spezialität Merkels, funktioniert im derzeit dichten Nebel nicht, und sie ist ohnehin gänzlich ungenießbar, wenn man sich vor Augen führt, worum es eigentlich geht, gehen müsste. Verantwortliche Politik braucht Weitsicht und Mut, und wenn es der Mut zum offenen Wort ist. Die Kanzlerin, die mal Umweltministerin war, und der Karrierekandidat, der heute Umweltminister ist, sie wissen beide, dass der Ausstieg aus der Atomkraft nur ein kleiner Schritt ist, gemessen am großen Ganzen. Sie sprechen von einem „Einschnitt“, aber sie sagen nicht, was das zu bedeuten hätte.

Ein Einschnitt wäre es, wenn Kanzlerin und Minister den Leuten offen sagen würden, was es bedeutet, „nicht einfach zur Tagesordnung“ überzugehen (Merkel). Wenn die Welt sich nicht weiter kannibalisieren soll, dann gehört zur Wahrheit, dass nicht jeder jeden Tag Fleisch essen kann, dass nicht jeder jeden Tag Auto fahren kann, dass nicht jeder jedes Jahr in Urlaub fliegen kann, dass nicht jeder jedes Jahr 33 Kilo Verpackungsmüll produzieren kann. Aber dass es soweit kommt, dass wir das von Merkel und Röttgen hören, ist unwahrscheinlicher als ein Super-Gau in einem deutschen Atomkraftwerk.

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