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Kontrapunkt: Den Atomkonsens kann Merkel vergessen

Angela Merkel will mit ihrem Atom-Moratorium einen neuen gesellschaftlichen Konsens suchen. Doch in der Debatte um die Kernenergie ist kein gesellschaftlicher Konsens mehr möglich, schreibt Carsten Kloth im aktuellen Kontrapunkt.

"Während Individuen sich normalerweise nur um Wahrscheinlichkeiten mittlerer Häufigkeit kümmern und sehr Unwahrscheinliches außer Acht lassen (…), findet man im Risikobewusstsein heute abweichende Sachverhalte, vor allem (...) durch die Möglichkeit extrem unwahrscheinlicher, dann aber katastrophaler Ereignisse", schreibt Niklas Luhmann in "Soziologie des Risikos". Seine Erklärung: Im Gegensatz zu Naturkatastrophen sind es menschliche Entscheidungen, die technische Katastrophen hervorrufen. Man kann sie verhindern. Also ist es sinnvoll, dagegen zu sein.

Natürliche Risiken sind unfreiwillig, unkontrollierbar und quasi gottgegeben. Zivilisatorische Risiken gelten hingegen als freiwillig und vermeidbar. Das macht ihr Eintreffen schlimmer, wie an der Reaktion auf die Ereignisse in Japan zu sehen ist. Auch erscheinen den Menschen selbstgewählte Gefahren akzeptabler als aufgezwungene: Wir rauchen, fahren Auto und betreiben Risiko-Sportarten. Dabei wehren wir uns vehement gegen unsichere Lebensmittel oder eben Atomkraftwerke. Ist das irrational?

Ja, sagen die Befürworter der Atomkraft. Gerne verweisen sie auf die vielen Toten im Straßenverkehr und auf ein rechnerisch geringes Restrisiko der Kernenergie. Doch das Bauchgefühl der vielen Menschen, die nicht erst seit Japan gegen Atomkraft protestieren, ist sehr viel rationaler als zu vermuten wäre. Jeder Vergleich mit dem Einzelschicksal von Autofahrern im Straßenverkehr verbietet sich, wenn ganze Länder oder Kontinente ins Unglück gestürzt werden können. Die Menschen wissen intuitiv, dass unendliche Schäden für die Allgemeinheit auch bei kleinem Risiko nicht akzeptabel sind, während sie als Individuum vergleichsweise hohe Risiken in Kauf nehmen können, zum Beispiel beim Autofahren.

Risiken werden subjektiv empfunden und sozial konstruiert. Darauf verweist auch Ulrich Beck in seinem Standardwerk zur Risikogesellschaft, der Epoche, in der die Schattenseiten des Fortschritts mehr und mehr die gesellschaftliche Auseinandersetzung bestimmen. Das heißt jedoch nicht, dass Laien grundsätzlich falsche Vorstellungen von Risiken haben und Experten richtige. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden in den USA und später auch in der Bundesrepublik umfangreiche Studien durchgeführt, um die Wahrnehmung von Risiken durch Laien zu untersuchen. Die überraschenden Ergebnisse: Obwohl Laien statistische Informationen fehlerhaft verarbeiten, schätzen sie Risiken im Vergleich zu den Experten gar nicht so schlecht ein.

Natürlich spielen bei der Risikobewertung von Laien „qualitative Risikomerkmale“ eine Rolle: Der katastrophale Effekt von möglicherweise nicht mehr beherrschbaren Störungen erzeugt eine hohe Aufmerksamkeit. Auch werden Risiken höher eingeschätzt, wenn das Risiko die Allgemeinheit trifft, den Nutzen davon jedoch nur wenige haben. Risiken, gegenüber denen man sich als hilflos empfindet, wie zum Beispiel nicht sinnlich wahrnehmbare Radioaktivität, werden ebenfalls höher eingeschätzt.

Es besteht also zwangsläufig ein Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Risiken durch Laien und Experten. Und normalerweise ist es richtig, auf den Rat von Experten zu hören. Nichts anderes tun wir, wenn wir zum Arzt gehen. Doch auch Experten haben mitunter Schwierigkeiten, Risiken zu kalkulieren – zumal Großrisiken. Ein Problem entsteht, wenn die Bevölkerung einer ganzen Gruppe von Experten nicht mehr vertraut, bzw. vertrauen kann.

Man müsse die Öffentlichkeit "richtig" informieren, folgerte die Atomindustrie aus dem Akzeptanzproblem der Kernenergie in Deutschland und steckte riesige Summen in Lobbyismus und PR. Mit Hilfe "ihrer" Experten versuchten sie eine andere "Risikowirklichkeit" zu konstruieren, nach der die Kernenergie akzeptabel erscheint. Da diese Risikokonstruktion von weiten Teilen der Bevölkerung nicht geteilt wurde, kam es zum Bruch des Konsenses zwischen den Laien und den Experten der Energiewirtschaft.

Das Verhalten der Wirtschaft, die außerdem sehr erfolgreich darin ist, Gefahren auf die Umwelt und die Allgemeinheit abzuwälzen, ist zwar egoistisch, aber nicht zwangsläufig verwerflich. Problematisch wird es dann, wenn die Politik, die eigentlich für die Gefahrenabwehr zuständig ist, einseitig Position bezieht. Genau dies ist geschehen, als Angela Merkel sich mit den Vertretern der Energiewirtschaft an einen Tisch gesetzt hat um den Ausstieg aus dem Atomausstieg zu beschließen. Dies war der eigentliche Bruch des Konsenses mit großen Teilen der Bevölkerung.

Niklas Luhmann wies angesichts der Katastrophe von Tschernobyl 1986 in einem Aufsatz darauf hin, dass für die Akzeptanz von Technologien mit hohem Katastrophenpotential "elementare Bedingungen für kognitiven und/oder moralischen Konsens fehlen". Angela Merkel will mit ihrem Atom-Moratorium dennoch einen neuen gesellschaftlichen Konsens suchen. Das kann sie vergessen: Die Kernenergie in Deutschland hat ihre Konsensfähigkeit längst verloren. Sie lässt sich weder durch penetrante PR, noch durch Politiktheater oder Pfefferspray zurückgewinnen.

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