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Mehr Geld in der Brieftasche? Eher im Gegenteil: Seit 1996 haben alle Bundesregierungen konsequent eine Politik der Lohnsenkung betrieben.

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Kontrapunkt: Der europäische Krisen-Automat

Die Eurokrise erzwingt, was alle Proteste nicht vermochten: Deutschlands Wirtschafts- und Politikelite muss endlich ihre Ignoranz gegenüber den Folgen ihrer Politik für die Verteilung der Einkommen aufgeben.

Jetzt wollen sie also ernst machen, die Währungsstrategen der Eurozone. "Harte Strafen" soll es künftig für alle jene Euro-Staaten geben, die sich über die vereinbarten Grenzen hinaus verschulden. Schon Regierungen, die einmal die Defizitgrenze von drei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung reißen, sollen künftig gleich 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach Brüssel überweisen, heißt es im nun vorgelegten Reformplan der EU-Kommission. Das wären im Fall Deutschlands mal eben sechs Milliarden Euro. Mehr noch: Auch Staaten, die an "unterentwickelter Wettbewerbsfähigkeit" leiden, die also mehr importieren, als sie ihrerseits ins Euro-Ausland verkaufen, sollen mit Sanktionen belegt werden. Lohnsenkungen oder andere "Wirtschaftsreformen" sollen damit über das EU-Recht erzwungen werden, und das sogar "automatisch" per Verfügung der Kommission. Allenfalls eine qualifizierte Mehrheit im Rat der Finanzminister soll die Strafaktionen aufhalten können, also die Mehrheit der Euro-Staaten mit der Mehrheit der Einwohner wäre dafür nötig. Werde dieses Konzept umgesetzt, sei dies "der größte Schritt zur Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit seit der Verabschiedung des Stabilitätspakts", pries Kommissionspräsident José Manuel Barroso den Plan und erhielt prompt Beifall von Kanzlerin Merkel, die sich dazu "einen möglichst hohen Automatismus" wünscht. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble forderte gar, man müsse Defizitsündern auch noch das Stimmrecht im Rat nehmen.

Wird jetzt also alles gut? Kann Euroland damit neue Schuldenkrisen seiner Mitgliedsstaaten verhindern? Ganz sicher nicht. Denn das Konzept geht völlig an der wirtschaftlichen Realität vorbei. Das belegt schon ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte der laufenden Krise. Da kämpfen derzeit etwa die Iren und die Spanier mit gigantischen Defiziten in ihren Staatshaushalten vom drei bis zehnfachen der erlaubten Grenzen. Darum müssen sie ihren Kreditgebern schon mehr als doppelt so hohe Zinsen bieten wie die Deutschen, um sich die benötigten Summen leihen zu können. Doch gerade diese beiden Länder haben bis einschließlich 2007 vorbildlich die geforderten Stabilitätskriterien erfüllt. In keinem Jahr lag ihr Staatsdefizit über drei Prozent und mehrfach erzielten sie sogar Überschüsse und reduzierten die Verschuldung.

Entscheidend sind eben nicht allein die Schulden

Gleichzeitig waren es aber die dortigen Baukonzerne, Banken und privaten Haushalte, die hohe Schulden anhäuften und damit einen Immobilienboom nährten, der grandiose Wachstumsdaten bescherte und die Steuerquellen sprudeln ließ. Erst als diese Blasen an den Immobilienmärkten in sich zusammenfielen, weil es für viele Gebäude gar nicht genügend zahlungskräftige Nutzer gab, brachen die Steuereinnahmen ein. Nun müssen die von Zahlungsausfällen angeschlagenen Banken mit zig Milliarden Euro gerettet werden, während die Bevölkerung radikale Lohn- und Leistungskürzungen verkraften muss. Der deutsche Staat dagegen hat in gleich vier der zehn Jahre seit Einführung der Gemeinschaftswährung mehr Schulden gemacht als eigentlich erlaubt war. Trotzdem stehen nun ausgerechnet die Deutschen als die soliden Haushälter da, die ihre Finanzen im Griff haben.

Mit anderen Worten: Die harte Durchsetzung der Stabilitätskriterien hätte vielleicht Griechenlands Überschuldung früher gestoppt, aber die Eurokrise selbst keineswegs verhindert. Entscheidend sind eben nicht allein die Schulden der Staaten innerhalb einer Währungszone, sondern die Gesamtverschuldung der Volkswirtschaft in den jeweiligen Ländern und die Kapitalflüsse zwischen ihnen. Da aber war es vor allem Deutschland, dass über seine Exporterfolge bei gleichzeitig niedrigen Importen Kapitalüberschüsse in dreistelliger Milliardenhöhe erzielte, die in Form billiger Kredite in die Defizitländer zurückflossen und dort die Immobilienblasen finanzierten. Gegen diese Ungleichgewichte bietet der neue Stabilitätsplan aber gar kein Instrument. Vorgesehen ist, dass allein Staaten mit Handelsdefiziten die Anpassung erbringen sollen. Das deutsche Überschussmodell pries der zuständige Kommissar Oliver Rehn dagegen als Ergebnis guter Wirtschaftspolitik. Das ist ökonomischer Unfug. Denn wäre dem so, könnten niemals alle Staaten der Welt gute Wirtschaftspolitik betreiben. Den Handelsüberschüssen der einen müssen zwangsläufig Defizite in anderen Ländern gegenüberstehen, jedenfalls solange die Exporte zum Mars noch nicht so richtig laufen.

So folgt die geplante Verschärfung des Stabilitätspakts dem Prinzip, den Patienten dadurch zu heilen, dass die giftige Medizin in noch höherer Dosis verabreicht wird. Käme es dazu, würde nur europaweit eine Spirale aus Lohnsenkungen und Einsparungen in Gang gesetzt, die in den wirtschaftlichen Abstieg führt, und das auch noch "automatisch". Dabei würden sich die Ungleichgewichte vermutlich sogar verschärfen. Eher früher als später wird den Lenkern der Gemeinschaftswährung darum gar nichts anderes übrig bleiben, als endlich den Kernfehler des Euro-Projekts zu korrigieren: Es muss ein Mechanismus gefunden werden, der einen regulären Ausgleich zwischen Überschuss- und Defizitländern ermöglicht. Der logische Weg, ein automatischer Finanzausgleich, ist wegen der Verfassung der Union als Staatenbund bisher versperrt. Darum bleibt als Alternative nur die enge Koordinierung der Steuer- und auch der Lohnpolitik zwischen den Eurostaaten, die auch den Überschussländern wie Deutschland, Niederlande und Österreich Auflagen macht.

Wettlauf um die niedrigsten Unternehmens- und Kapitalsteuern beseitigen

Das müsste damit beginnen, endlich die Absurdität des Wettlaufs um die niedrigsten Unternehmens- und Kapitalsteuern zu beseitigen und eine einheitliche Steuerbasis zu schaffen, die den Tricksereien der Steuervermeidungsindustrie ein Ende setzt. Wenn etwa Irland demnächst Gelder aus dem Krisenfonds benötigt, müsste dies zwingend mit der Auflage verbunden werden, die irische Steueroase stillzulegen, wie es jüngst auch der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold und sein CSU-Kollege Markus Ferber forderten. Und genauso muss es Grenzen im Wettbewerb um die niedrigsten Löhne geben. Das bedeutet keineswegs, Deutschlands Exporte mittels Lohnsteigerungen und zugehörigen Preiserhöhungen zu bremsen. Der deutsche Beitrag zur Eurokrise sind nicht die hohen Exporte von Hightech-Produkten, bei denen die Löhne ohnehin nur einen geringen Anteil an den Kosten haben, sondern die mangelnde Kaufkraft der Arbeitnehmer in allen Sektoren für Angebote aus den anderen Euroländern, und sei es in Form von Tourismusdienstleistungen.

Dabei ist der gängige Einwand, für die Löhne seien die Tarifpartner zuständig und nicht die Politik, längst widerlegt. Alle Bundesregierungen seit 1996 haben konsequent eine Politik der Lohnsenkung betrieben. Schon die Regierung Kohl kürzte Sozialleistungen, um Arbeitgeber zu ent- und die Arbeitnehmer zu belasten. Dann hat Rot-Grün den Arbeitsmarkt "liberalisiert", ohne gleichzeitig eine Lohnuntergrenze festzulegen und so einen Niedriglohnsektor geschaffen, der schon ein Drittel der Arbeitnehmer an die Armutsgrenze geführt hat – ein wirtschaftlicher Unsinn, den nicht einmal Britanniens neoliberale Hardliner verfolgten und auch keines der anderen Euroländer. Anschließend hat Schwarz-Rot die Mehrwertsteuer gleich um drei Prozent erhöht, obwohl dies unmittelbar die Massenkaufkraft schwächt, während gleichzeitig die Exporte nicht belastet wurden. Jetzt dreht Schwarz-Gelb weiter an der Abgabenschraube, während die Arbeitgeberbeiträge "eingefroren" werden. Und kontinuierlich propagierten alle Bundesregierungen die "private Vorsorge", um die Einkommen der Arbeitnehmer auf die Provisionsmühlen der Finanzbranche zu lenken und so der Konsumnachfrage zu entziehen.

So erzwingt nun die Eurokrise, was alle Proteste nicht vermochten: Deutschlands Wirtschafts- und Politikelite muss ihre Ignoranz gegenüber den Folgen ihrer Politik für die Verteilung der Einkommen aufgeben und endlich dafür sorgen, dass die Gewinne aus der steigenden Produktivität auch für steigende Nachfrage sorgen. Gelingt das nicht, dann wird die Eurozone immer tiefer in die Krise rutschen und eher früher als später zerfallen. Den größten Schaden davon hätte Deutschland. Müsste die D-Mark wieder eingeführt werden, würde ihr Kurs so drastisch steigen, dass deutsche Waren im EU-Ausland unbezahlbar würden. Und das ganz automatisch.

Die Autoren von Kontrapunkt: Montags schreibt Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff. Dienstags kommentiert Meinungschef Malte Lehming. Mittwochs analysiert Tissy Bruns insbesondere das politische Geschehen. Donnerstags schreibt Chefredakteur Lorenz Maroldt und freitags Wirtschaftsexperte Harald Schumann.

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