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Die Zeit von "Bruder Oberst" ist abgelaufen, aber was Libyen nach Gaddafi für ein Land wird, steht in den Sternen. Stabilität und Demokratie unter einem Hut sind im Maghreb nicht gerade selbstverständlich.

© AFP

Kontrapunkt: Der Fluch der guten Tat in Libyen

Viele Libyer feiern das Ende Gaddafis als Triumph. Der Allianz in Brüssel indes dürfte mulmig zumute sein, sagt Malte Lehming. Die Angst geht um – denn jetzt erst wird es richtig ernst.

Muammar al-Gaddafi ist Geschichte – wie immer sein Ende aussehen mag. Das ist eine gute Nachricht. Der Diktator kann nun nicht mehr foltern und morden. Er kann keine Passagierflugzeuge mehr abschießen oder Krankenschwestern inhaftieren. Selbst Gegner der Nato-Intervention in Libyen dürfen sich über das Ende dieser Schreckensherrschaft freuen. Anerkannt werden muss auch, dass durch das Eingreifen der Nato viele Menschenleben gerettet wurden. Die Zivilbevölkerung von Bengasi war akut bedroht. Durch das Handeln der Weltgemeinschaft wendete sich das Blatt zugunsten der Rebellen.

Zur vollen Wahrheit des guten Endes zählt aber ebenso, dass es für eine humanitäre Bilanz des Krieges zu früh ist. Womöglich sind mehr Zivilisten in den vergangenen sechs Kriegsmonaten gestorben, als in Bengasi gerettet wurden. Außerdem hat die Nato mit dem Krieg gegen die Gaddafi-Diktatur zweifellos ihr ursprüngliches UN-Mandat überschritten. Die „Operation Morgendämmerung“ war eine gesinnungsethische Intervention. Und ob ihr praktischer Nutzen – den Funken der Freiheit, der in Tunesien und Ägypten entfacht worden war, nicht erlöschen zu lassen – etwa auch in Syrien noch zur Geltung kommt, bleibt abzuwarten.

Libyen ist Afghanistan mit Öl. Hier wie dort ist die Gesellschaft von Stämmen geprägt, hier wie dort haben widerständige Gruppen – die Nordallianz in Afghanistan, die „Rebellen“ in Libyen – mit Hilfe westlicher Waffen und Luftangriffe eine Tyrannei beseitigt. Doch gerade das Beispiel Afghanistan zeigt, dass die nachrevolutionäre Phase eine weitaus größere Kraftanstrengung erfordert als die Revolution selbst. Nation-building, der Aufbau von Justiz, Verwaltung, Infrastruktur, Bildungswesen: Das alles muss buchstäblich aus dem Nichts entstehen und auf Sand gebaut werden.

Angesichts der ja nicht gerade ermutigenden Erfahrungen in Afghanistan ist es erstaunlich, wie unbefangen sich der Westen auch in Libyen durch sein Engagement hat in die Verantwortung nehmen lassen. Dabei weiß man es doch längst: Die Bilder von entmachteten Taliban, einem gestürzten Saddam Hussein oder den violett gefärbten Fingern bei ersten freien Wahlen währen auf der Positivseite im kollektiven Gedächtnis meist nur kurz. Schnell verdrängt werden sie durch Bilder von Machtkämpfen, Terroranschlägen und Re-Islamisierungen.

Der Westen will raus aus allen Kriegsverpflichtungen. Die vorherrschende Stimmung heißt: Entmilitarisierung aller Außen- und Sicherheitspolitik. Libyen aber liegt vor Europas Haustür. Und es hat Öl. Strategisch wäre es für uns wichtiger, dass sich rund um Tripolis und Bengasi eine stabile neue Ordnung etabliert als in Kandahar. Zumindest sollte es uns nicht weniger wichtig sein. Doch auch das ist eine Wahrheit, die innerhalb der Nato allenfalls hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wird. 

Viele Libyer feiern das Ende Gaddafis als Triumph. Der Allianz in Brüssel indes dürfte mulmig zumute sein. Die Angst geht um – vor dem Fluch der guten Tat.

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