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Bei einem Schweigemarsch in Hamburg fordern die Teilnehmer Aufklärung.

© dpa

Kontrapunkt: Die Identität des modernen Migranten

Die türkische Regierung verlangt von Deutschland mit drastischen Worten Rechenschaft für die Morde der Zwickauer Neonazi-Gruppe. Ist das anmaßend, fragt Malte Lehming. Oder gar frech?

Deutschland soll für „jeden Tropfen Blut“, der durch die Taten rassistischer Terroristen vergossen wurde, Rechenschaft ablegen. Das fordert der türkische Außenminister. Die acht getöteten Türken seien „Märtyrer“, sagt er. „Sie wurden ermordet, weil sie Türken waren.“

Es ist nicht das erste Mal, dass die türkische Regierung den Anspruch erhebt, Sprachrohr der rund drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland zu sein. Legendär sind in dieser Beziehung die Staatsbesuche von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. In seiner Rede im Februar 2008 in der Köln-Arena rief er den 16.000 Zuhörern zu: „Niemand kann von ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Zu loben sei stattdessen deren Traditionstreue: „Sie haben hier einerseits gearbeitet, andererseits aber haben sie sich bemüht, ihre Identität, ihre Kultur, ihre Traditionen zu bewahren. Ihre Augen und Ohren waren immer auf die Türkei gerichtet.“ Auch bei seinem letzten Besuch, vor drei Wochen, mahnte Erdogan deshalb erneut die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit für türkischstämmige Deutsche an.

Ist das anmaßend, gar frech? Drückt sich darin eine Art vordemokratischer Paternalismus aus, der die migrantische Parallelgesellschaft idealisiert? Wie soll Integration gelingen, wenn Abschottung propagiert wird, nach dem Motto: einmal Türke, immer Türke? Diese Einwände liegen auf der Hand. Das Einwanderungs- und Integrationskonzept indes, das sie leitet, ist realitätsfremd.

So mag es früher gewesen sein: Menschen verlassen ihre Heimat, nehmen nur das Nötigste mit, siedeln in der neuen Heimat und versuchen, die dort herrschenden Gepflogenheiten zu übernehmen – und zwar für immer. Der Kontakt zur alten Heimat wird langsam brüchig, die Vergangenheit stirbt ab. Heute indes sieht Migration ganz anders aus. Menschen verlassen ihre alte Heimat oft nur auf Zeit, sie pendeln dank billiger Flüge regelmäßig hin und her, mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel – Internet, Skype, Facebook – bleiben sie mit Freunden und ihrer Familie eng verbunden, das Satellitenfernsehen hält sie über alle Nachrichten aus der alten Heimat stetig auf dem laufenden.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Erdogans Auftritte die neue migrantische Identität reflektieren.

Statt eine neue Identität anzunehmen, führt der moderne Migrant meist eine Doppelidentität. Er fühlt sowohl-als-auch, als Deutscher und als Türke, als Chinese und Amerikaner, als Inder und Südafrikaner. Der Schlüsselbegriff für diese Entwicklung heißt „Hyper-Connectivity“. Der moderne Migrant ist hyper-connected, es fällt ihm leichter als je zuvor in der Geschichte, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit aufrecht zu erhalten. Den Entscheidungsdruck – sei entweder Türke oder Deutscher! – hält er für unangemessen.

Meist finden sich diese modernen Migranten in homogenen Herkunftsmilieus zusammen. Doch das hat weniger mit Abschottung zu tun als mit dem Bedürfnis nach Kommunikation. Ähnliches zieht sich an. Das ist normal. Laut „Economist“ gibt es weltweit 215 Millionen Migranten in erster Generation. Sie verändern das gesamte Wirtschafts- und Politikleben. So haben etwa rund 500.000 Chinesen im Ausland studiert und sind dann nach China zurückgekehrt. Bald werden 15 bis 17 Prozent der Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei aus solchen Heimkehrern bestehen, die gelernt haben, wie Demokratie funktioniert und was deren Vorzüge sind. Das wird folgenreich sein für die weitere Entwicklung des Landes.

Erdogans Auftritte in Deutschland reflektieren diese neue migrantische Identität. Ohnehin besitzt nur rund ein Drittel der Deutschtürken die deutsche Staatsangehörigkeit. Und natürlich weiß Erdogan, wie wichtig etwa der Spracherwerb ist. In seiner Kölner Rede beklagte er auch: „Viele unserer Kinder hier lernen in frühem Alter keine Fremdsprachen. Diese Kinder werden mit Deutsch erst dann konfrontiert, wenn sie mit dem Schulbesuch beginnen. Und das führt dazu, dass diese Kinder im Vergleich zu den anderen Schülern die Schullaufbahn mit einem Nachteil von eins zu null beginnen.“

Ob die aktuelle Sprachwahl richtig ist, die Terroropfer als „Märtyrer“ zu bezeichnen und Rechenschaft „für jeden Tropfen Blut“ zu fordern, sei dahingestellt. Aber wenn Türken in der Türkei Anteil nehmen am Schicksal von Menschen, die zwar in Deutschland leben, sich aber auch als Türken fühlen, dann ist das nicht nur ihr selbstverständliches Recht, sondern auch eine Geste humaner Solidarität.

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