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Gehört der Islam zu Deutschland? Wulffs These bleibt umstritten.

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Kontrapunkt: Hier stoßen zwei Welten aufeinander

Wulffs vier Sätze über Christentum, Judentum, jüdisch-christliche Geschichte und den Islam haben offenbar eine irritierende Wirkung. Die Interpretationen sind mannigfaltig - und die muslimische Integration wird zum Ventil für Unsicherheiten und Beunruhigung.

"Denn unbestritten ist, dass es eine unversöhnte Lage zwischen dem Islam und der Moderne gibt." Der Satz stammt von Annette Schavan, stellvertretende CDU-Vorsitzende und Bundesministerin. Schavan liefert eine der zahlreichen Interpretationen aus dem Regierungslager zur Rede des Bundespräsidenten. Allen voran hat die Bundeskanzlerin mehrfach die Worte von Christian Wulff gedeutet ("Nicht die Scharia, das Grundgesetz gilt"), ehemalige und amtierende Ministerpräsidenten haben Klarstellungen geliefert, was das Wort, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, bedeute oder nicht. Wer meint, hier tobe sich nur die "alte" C-Partei aus, die Deutschland auf ihre christliche Leitkultur einschwören will, greift zu kurz. Nicht nur, weil kritische Beiträge zur Rede auch von Hans-Ulrich Wehler, Heinz Buschkowsky, Monika Maron oder Ralph Giordano kommen, die in diese Schublade nicht passen. Interpretative Bemerkungen hat übrigens auch der Vizekanzler von der liberalen Partei für nötig gehalten.

Wulffs vier Sätze über Christentum, Judentum, jüdisch-christliche Geschichte und den Islam haben offenbar eine irritierende Wirkung. Denn bei jeder politischen Aussage zählt nicht nur das bloße Wort. Die Umstände, die Zeit, in der es gesagt wird, bestimmen die Wahrnehmung. Nach den Aufregungen über das Sarrazin-Buch kann niemand mehr übersehen, dass die muslimische Integration oder Nichtintegration eine Quelle, mindestens aber ein Ventil für Unsicherheiten und Beunruhigung ist, bei allen Beteiligten. Politiker müssten zur Kenntnis nehmen, dass sie bei aller Kritik, die Sarrazin verdient, mittlerweile unter dem Generalverdacht stehen, die großen Alltagsprobleme der Bürger (nicht nur die mit der Migration) unter den Teppich zu kehren und mit alltagsuntauglichen Postulaten zu übertönen.

Deshalb sind besonders dumm die Stimmen aus der SPD, die meinen, sich an den Widersprüchen der Union die Hände wärmen zu können und Christian Wulff gar nicht genug loben können. Die SPD-Anhänger und potenziellen Wähler, die sozialen Gruppen, die man gern "die kleinen Leute" kennt, wohnen gewissermaßen nebenan. Sie gehören zu den in mehreren Umfragen ermittelten Mehrheiten, die den Satz von Christian Wulff nicht richtig finden.

Annette Schavan trifft den entscheidenden Punkt: "Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, der Islam sei Teil unserer Kultur wie Christentum und Aufklärung." Und fährt fort: "Das sagt aber auch keiner." Wulff ist jedoch von vielen Menschen so verstanden worden, dass er nicht nur die Beschreibung einer Realität, sondern eine normative Bewertung geliefert hat.

Die studierte Theologin Schavan kann gelassen einordnen, was viele Menschen als praktische Erfahrung wahrnehmen: Hier stoßen doch zwei Welten aufeinander. Und darüber dürfen Politiker nicht einfach hinwegreden.

Deutschland ist nicht nur ein Einwanderungsland, es ist aus demografischen und ökonomischen Gründen auf den Erfolg und die Integration seiner Einwanderer dringend angewiesen. Die banale Tatsache, dass der Islam, wie Schavan Wulff geschickt deutet, "Teil der Wirklichkeit ist", ändert jedoch nichts an der ebenso banalen und schwierigen Tatsache, dass tatsächlich Welten aufeinander stoßen. Wahr ist nämlich auch, dass Deutschland kein "klassisches" Einwanderungsland wie die USA oder Kanada ist, wo Zuwanderer auf Zuwanderer treffen, die sich alle und von vornherein einem erheblichen Anpassungsdruck stellen müssen (und die ursprüngliche Bevölkerung dabei sträflich behandelt haben). "Der Wind der Geschichte hat Menschen aus über 160 Ländern hierher gebracht, die keine gemeinsame Geschichte haben", sagt Buschkowsky über Neukölln. Sie treffen auf eine Mehrheitsgesellschaft, die eine gemeinsame Geschichte hat. Es ist die lange, mühsame, inspirierende, grausame, ambivalente Geschichte des "Westens", des christlichen Okzidents, der sein geistliches Zentrum in Rom hatte. Eine Geschichte, die in den säkularen, freiheitlichen Staat geführt hat, eine Geschichte der Kämpfe um die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, die Voraussetzung war für die moderne Gewaltenteilung der Aufklärung. Nach langen Religionskämpfen geistlicher Oberhäupter gegen ihre Häretiker und Ketzer ist das religiöse Bekenntnis im Wortsinn zur "Häresie", zur freien Wahl des Einzelnen geworden ist, die der freiheitliche Staat seinen Bürgern garantiert.

Kommt es darauf an, in den heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen die Zitate und Belege für die kulturellen Rückständigkeiten der Zeiten zu finden, in denen sie entstanden sind? Ein Kinderspiel, das den entscheidenden Unterschied überdeckt, den - ob Christ, Muslim, Jude oder Atheist - in Deutschland doch alle kennen oder empfinden: Das Christentum ist durch die Aufklärung gegangen, der Islam aber (noch) nicht. Das sind, in einem sehr schlichten, nüchternen Sinn "zwei Welten".

Zur Wahrheit, dass ihre Integration nur über Anstrengungen zu erreichen ist, gehört eine zweite, die Wulff genannt hat. Die normative Grundlage dieser Integration kann nur das Grundgesetz sein. Erzwingen allerdings können sie nicht Staat und Grundgesetz, sondern nur die Menschen, die ein Gemeinwesen mit seinem Geist und den Traditionen ausfüllen, die die freiheitliche Verfassung unseres Gemeinwesens erst möglich gemacht haben.

"Aber ich bin der unerschütterlichen Überzeugung, dass sich alle Menschen nach bestimmten Dingen sehnen: Die Fähigkeit, seine Meinung zu äußern und ein Mitspracherecht dabei zu haben, wie man regiert wird, Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz zu haben, eine Regierung, die transparent ist und die Menschen nicht bestiehlt sowie die Freiheit, so zu leben, wie man möchte. Das sind nicht nur amerikanische Ideen, es sind Menschenrechte." Das hat Barack Obama in Kairo gesagt, als er dem Islam die Hand gereicht hat.

Die Autoren von Kontrapunkt: Montags schreibt Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff. Dienstags kommentiert Meinungschef Malte Lehming. Mittwochs analysiert Tissy Bruns insbesondere das politische Geschehen. Donnerstags schreibt Chefredakteur Lorenz Maroldt und freitags Wirtschaftsexperte Harald Schumann.

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