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Die Palästinenser wollen bei der UN einen Antrag zur Gründung eines eigenen Staates stellen.

© Reuters

Kontrapunkt: Israel hat verloren

Die Palästinenser wollen bei der UN einen Antrag auf einen eigenen Staat stellen. Reine Wohlfühl-Propaganda ist das, sagt Malte Lehming. Um so unverständlicher fällt die israelische Reaktion aus.

Der Puls rast, kalter Schweiß nässt das Hemd, an Nachtschlaf ist kaum zu denken: Die Vorstellung, sich ewig an einen Menschen zu binden, mit diesem durch Dick und Dünn zu gehen, „bis dass der Tod Euch scheidet“, kann Panikattacken erzeugen. Ewig? Ist das nicht sehr, sehr lange?

Dass aber auch eine Trennung nach 44 okkupatorischen Ehe-Jahren zu ähnlichen Reaktionen führen kann, beweisen Israelis und Palästinenser. Der Kopf sagt Schluss, Aus, Vorbei. Doch das Herz erfindet immer neue Ausreden, warum der Zeitpunkt für eine Scheidung gerade nicht günstig sei. Fragile Koalitionsregierung in Jerusalem, zerstrittene Palästinenser, fortgesetzter Siedlungsbau, Terroristen in Gaza, Fanatiker in Hebron, Israel zu stark/zu schwach, Palästinenser zu stark/zu schwach, US-Regierung macht zu viel/zu wenig Druck. So geht das seit Jahren.

Dabei ist allen Beteiligten und dem Rest der Welt vollkommen klar, was passieren muss. Es wird zwei Staaten geben, der Grenzverlauf wird sich an der grünen Linie orientieren, die Israel und die Westbank bis 1967 getrennt hat, einige Siedlungsblöcke bleiben bei Israel, dafür werden die Palästinenser entweder mit anderem Gebiet oder pekuniär kompensiert, ein symbolischer Teil Jerusalems wird sich „Hauptstadt von Palästina“ nennen dürfen, ohne dass die Stadt erneut geteilt wird, ein Staat Palästina wird ziemlich demilitarisiert sein. Kompliziert ist daran gar nichts. Es fehlt allein am Willen.

Scheiden tut weh. Keiner fügt sich selbst gern Schmerzen zu. Das trifft auch auf jene in Israel zu, die verstanden haben, dass die Fortsetzung der Besatzung ad infinitum eine größere Gefahr für die Identität und moralische Verfasstheit ihrer Gesellschaft bedeutet als deren Beendigung. Vor mehr als 20 Jahren bereits schrieb Henryk M. Broder mit prophetischer Wucht: „Es könnte sein, dass die Regierung, die derzeit die Geschicke Israels bestimmt, sich eines nicht allzu fernen Tages wegen Verrats nicht nur am israelischen Volk, sondern auch an den besseren zionistischen Ideen wird verantworten müssen.“

Und was ist diese bessere zionistische Idee? Wieder Broder, zur Erläuterung: „Nun erheben die Palästinenser dieselben Forderungen wie die Juden vor einem halben Jahrhundert: Sie wollen sich als Nation im eigenen Haus organisieren. Dafür zu sorgen, dass den Palästinensern endlich Recht zuteil wird, wäre eine zionistische Aufgabe – die letzte große Herausforderung für den Zionismus hundert Jahre nach seinem Entstehen.“

Weil nun die Palästinenser nicht mehr länger auf die Einsichtsfähigkeit der besseren Zionisten hoffen wollen, werden sie in der kommenden Woche einen Antrag auf einen eigenen Staat bei den Vereinten Nationen in New York einreichen. Natürlich, und das weiß jeder, ist die ganze Sache vor allem symbolisch. Ein UN-Votum produziert keinen Staat, beendet keine Besatzung, schafft keine Gerechtigkeit. Der Slogan „Palästina 194“ ist reine Wohlfühl-Propaganda.

Warum Benjamin Netanjahu Angela Merkel etwas schuldig ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Um so unverständlicher ist es, wie aufgeregt, ja hysterisch Israel auf die Initiative reagiert hat. In einem diplomatischen Kraftakt, der seinesgleichen sucht, bemüht man sich bis heute, die absehbar große Pro-Palästina-Mehrheit – etwa 130 bis 140 der 193 UN-Mitglieder werden wohl für den Antrag stimmen – durch eine „moralisch qualifizierte Minderheit“ zu diskreditieren – dazu zählen die USA, Deutschland, die Niederlande, Italien und Tschechien. Dieser Versuch wird schon deshalb scheitern, weil selbst die Länder, die mit Nein stimmen (einschließlich Israel), inhaltlich kaum triftige Einwände gegen sie haben. Beklagt werden vor allem die Einseitigkeit des Schrittes und dessen möglichen negativen Folgen für den „Friedensprozess“.

Durch die israelische Panik wiederum wurde die palästinensische Initiative erst recht aufgewertet. Das nennt man ein Eigentor. Letztlich werden die Palästinenser gewonnen haben, egal wie die Abstimmung ausgeht. Denn Israel weiß genau, dass die Unterstützerländer für ihr Nein eines Tages entschädigt werden wollen. Von Amerikanern, Deutschen, Holländern und anderen wird in Jerusalem erwartet, sich international zu isolieren, indem man zu Israel hält. Das hat seinen Preis. Irgendwann ist Payback-Time.

Insofern ist das deutsche Nein richtig. Es erhöht das Gewicht Deutschlands in Israel in einer entscheidenden Phase auf dem Weg zur Zweistaatlichkeit. Benjamin Netanjahu ist Angela Merkel nun etwas schuldig. Aus israelischer Perspektive freilich ist das doppelt misslich: Eine große Mehrheit in der UN schlägt sich auf Seiten der Palästinenser, während eine „moralische Minderheit“ durch ihre Israel-Solidarität das Recht erwirbt, künftig mehr Druck auf Jerusalem ausüben zu dürfen. 

Führen zwei Staaten zum Frieden im Nahen Osten? Nein, zumindest nicht automatisch. Sie sind lediglich das kleinere Übel gegenüber der Transfer-Lösung („ethnische Säuberung“) und der perspektivlosen Fortsetzung der Besatzung, sprich: der Herrschaft über ein anderes Volk. Außerdem wäre ein Staat Palästina gut, um zu sehen, ob und wie viele Araber und Europäer dann von ihrem Israel-Hass abkommen. 

Die Geschichte ist manchmal listig. Sie überlistet vor allem die gerne, die sie aufhalten wollen.

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