zum Hauptinhalt
Keine Zeit für die Lektüre von Sarrazins Buch: Angela Merkel.

© dpa

Kontrapunkt: Sie hat Sarrazins Buch nicht gelesen!

Es ist still geworden um den Integrationsexperten Thilo Sarrazin. Ankläger und Verteidiger haben sich wohl aufs Sofa zurückgezogen, um endlich in Ruhe zu lesen. Eine hat dafür sicher keine Zeit: Angela Merkel. Gut so.

Lange nichts mehr von Sarrazin gehört. Seit Anfang dieser Woche kommt er nur noch als Randfigur in den Medien vor, sein Name allenfalls als Synonym für eine bestimmte Haltung, wobei es, je nach Umstand, Lesart und Medium, mal die eine ist, mal die andere. Ach ja, und im TV konnte man ihn die Tage noch mal sehen, in einer Dokumentation zum 20. Jahrestag der Einheit, offenbar eine Aufzeichnung. Sarrazin war ja damals schon Migrations- und Integrationsexperte, erst als Referatsleiter im Finanzministerium, zuständig für die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, dann bei der Treuhandanstalt. Ansonsten – Ruhe im Migrantenstadl.

Zuvor hatte Sarrazin in seiner Aufregung noch selbst wohlwollende Beiträge als „Teil einer Diffamierungskampagne“ diffamiert, seitdem schweigt auch er. Womöglich haben sich die meisten der erregten Diskutanten, Ankläger wie Verteidiger, ermattet aufs Sofa zurückgezogen, um jetzt mal endlich in Ruhe zu lesen, worüber sie eigentlich die ganze Zeit geredet habe. 470 Seiten sind ja schließlich auch mehr als ein Wort.

Eine wird sicher nicht dazu gehören: Die Bundeskanzlerin. In einem Interview mit der FAZ hatte Angela Merkel mitgeteilt, dass sie Sarrazins Buch nicht gelesen habe und dass für sie die Vorabpublikationen „vollkommen ausreichend und überaus aussagekräftig“ waren, „um These, Kern und Intention seiner Argumentation zu erfassen“. Wir erinnern uns: Merkel hatte noch vor der offiziellen Veröffentlichung des Buches über ihren Sprecher verlauten lassen, die Äußerungen Sarrazins seien „für viele Menschen in diesem Land nur verletzend“ und seine Worte „überhaupt nicht hilfreich“, um mit der Integration voranzukommen.

Einen Tag nach Merkels freimütigem Bekenntnis gab sich der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher im Feuilleton-Aufmacher seiner Zeitung „Baff, seit gestern“, und: „sprachlos“. Es folgen dann 304 schwungvolle Zeilen, auf deren letzten er auch in diesem Zusammenhang noch mal dem damaligen FAZ-Wunschkandidaten fürs Bundespräsidentenamt Joachim Gauck nachtrauert und auf deren ersten er Angela Merkel abgekanzelt. Sie hat es nicht gelesen! Dabei habe doch gerade Merkels „Buchkritik“ jenen meinungsfreiheitsbeschneidenden Berufsverbotsprozess in Gang gesetzt, an dessen Ende der Bundespräsident Christian Wulff, der als Teil des Staates „Kritik für seine Zwecke missbraucht“, den Bundesbanker Sarrazin aus dem Amt drängte.

Ja, da kann man schon baff sein: Wie konnte Schirrmacher glauben, Merkel habe das Buch gelesen und rezensiert? Behauptet hat sie es jedenfalls nie. Und wollen wir wirklich, dass die Bundeskanzlerin ihre Zeit, die ja auch unsere ist, mit einem langatmigen Buch vertut, das kaum neue Erkenntnisse birgt, weder in der Sache, noch über den Autor?

Die Autoren von Kontrapunkt: Montags schreibt Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff. Dienstags kommentiert Meinungschef Malte Lehming. Mittwochs analysiert Tissy Bruns insbesondere das politische Geschehen. Donnerstags schreibt Chefredakteur Lorenz Maroldt und freitags Wirtschaftsexperte Harald Schumann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false