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Kontrapunkt: Unser Leben im Goldfischglas

Übrig geblieben von der Sarrazin-Debatte des vergangenen Herbstes ist allein die Frage, ob er in der SPD bleiben darf. Jetzt zeigt sich, wie hysterisch die Reaktion auf seine Thesen war.

An diesem Donnerstag muss Thilo Sarrazin gegenüber der SPD seine These verteidigen, dass Deutschland sich abschafft. Gelingt ihm das nicht, fliegt er aus der Partei. Die Vorstellung ist skurril: An einem wunderbaren Frühlingstag vor Ostern beugen sich bedeutende SPD-Politiker wie Klaus von Dohnanyi und Andrea Nahles über eine Buchseite nach der anderen, um mit großer Ernsthaftigkeit zu klären, ob die alle SPD-konform sind oder nicht. Die Antwort darauf interessiert heute kein Schwein mehr, und auch Nahles, Dohnanyi und die anderen Beteiligten würden den Tag vermutlich gern anders verbringen.

Vor nur wenigen Monaten war der Ruf Deutschlands in der Welt durch die Thesen von Sarrazin gefährdet. Jetzt ist er hin, durch die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Libyen-Resolution. Heute könnte Sarrazin auf die monströsen Euro-Sicherheitsschirme hinweisen, um zu belegen, dass Deutschland sich abschafft. Für seine Thesen zur Einwanderung interessiert sich niemand mehr, und dass die Bildungsgutscheine von Ursula von der Leyen nicht abgefragt werden, ist natürlich allein ein Versagen der Politik und nicht derjenigen, die ihre Kinder weiter verwahrlosen lassen. War was?

Übrig geblieben von der Sarrazin-Hysterie des vergangenen Herbstes ist allein die Frage, ob er in der SPD bleiben darf. Vermutlich werden wir uns in einem halben Jahr nur noch dafür interessieren, ob die Enthaltung der Deutschen im Sicherheitsrat korrekt protokolliert wurde oder nicht. Dann müssen wir uns wenigstens nicht überlegen, wie wir mit Aufruhr in der arabischen Welt umgehen.

Ein Goldfisch dreht eine Runde in seinem Goldfischglas und kann sich nicht mehr erinnern, was er bisher gesehen hat. Bei jeder Runde blickt er auf den Fernsehsessel und denkt, dass er den Fernsehsessel zum ersten Mal in seinem Leben sieht. So wird dann Politik gemacht: geschichtslos, kontextlos, atemlos. Alles wird immer neu entdeckt: Sarrazin bricht angeblich das Tabu und redet endlich über Einwanderer, Fukushima öffnet uns endlich die Augen dafür, wie gefährlich Atomenergie ist. Und schon beginnt die Debatte, als ob sie noch nie geführt worden wäre. Nun streiten also die SPD und die Grünen in Baden-Württemberg über das Projekt Stuttgart 21 – als stünde nicht schon viel zu viel fest. Aber auch hier ist ganze Aufregung sicher bald verpufft. Und wer weiß, wie viel vom heute so alternativlosen Atomausstieg übrig bleibt?

Das morgige Sarrazin-Tribunal, Folge fairer innerparteilicher Verfahrensregeln, ist geradezu postdemokratisch: Formal stimmt alles, inhaltlich ist nichts erreicht. Zu mehr waren wir nicht in der Lage. Doch was ist in Wahrheit der größere Skandal: Ein SPD-Mitglied, das umstrittene Thesen zur Einwanderung vertritt, oder ein SPD-Vorsitzender, der die Klimaerwärmung vorantreiben will. Wer sollte eher zurückgetreten: Ein Verteidigungsminister, der seine Doktorarbeit abgeschrieben hat, oder ein Außenminister, der falsche Außenpolitik macht? Was ist folgenreicher für das Land: Stuttgart 21 oder die Pleite Griechenlands? Was ist verwerflicher: Vom Diktator Gaddafi Öl zu kaufen oder Gas vom Autokraten Putin?

Deutschland schafft sich ab, weil es über die falschen Themen redet und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden kann. Und dann alles wieder vergisst. Wir leben im Goldfischglas.

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