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Kontrapunkt: Von Jasmin Maurer zu Renate Künast

Die Piraten übernehmen eine wichtige politische Sozialisierungsarbeit.

Wird die Welt besser oder schlechter? Die Antwort darauf hängt nicht von Argumenten ab, sondern vom Charakter, der inneren Gestimmtheit. Religiöse und konservative Menschen tendieren dazu, in jeder Veränderung eine Gefahr zu wittern. Die Zahl der Ehen und Geburten nimmt ab, die der Alleinerziehenden zu, immer weniger Menschen beteiligen sich an Wahlen, gehen in die Kirche, organisieren sich in Parteien oder Gewerkschaften: Das alles gilt als Symptom für Atomisierung, Individualisierung, Krise der Demokratie. Auch der Erfolg der „Piraten“, einer angeblich programmlosen Protestpartei, wird in diese Lesart gepresst.

Die Essenz des gesellschaftlichen Pessimismus hat vor gut zwei Wochen Claus Jacobi in seinem Tagebuch für die „Bild“-Zeitung formuliert („Moral hat Magersucht“). Jacobi war einst Chef von „Spiegel“, „Stern“, „Welt“ und „Wirtschaftswoche“. In seinem Rundumschlag der grassierenden Sündhaftigkeit lässt er nichts aus. Schamlosigkeit, Gewalt in den Schulen, Geschwätzigkeit, Schulden, Selbstsucht. Der Diagnose, dass heute vieles anders ist als früher, lässt sich in der Tat kaum widersprechen. Aber bedeutet „anders“ automatisch schlechter?

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Joachim Gauck sind Beispiele für die gegenteilige Ansicht. Für sie bedeutet Geschichte Fortschritt. Was dem einen die Entwicklung zur Freiheit, ist dem anderen die zur klassenlosen Gesellschaft. „Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit“, frohlockte Gauck am vergangenen Freitag. Freilich war er virtuos genug, über seinen allgemeinen Fortschrittsoptimismus auch ein paar Sorgenfalten zu legen – die geringe Wahlbeteiligung, die Distanz von Regierenden und Regierten, das fehlende Vertrauen „in jene, die Verantwortung tragen“. Da klang sie wieder an, die Melodie von der Krise. Denn ein Optimist ohne Krisenbewusstsein wäre fürs Publikum schnell langweilig. Die Grundbotschaft, dass alles gut wird, muss mit ermahnenden Zeigefingern vorgetragen werden. Per aspera ad astra.

Was weder Pessimisten noch Optimisten gerne tun, ist die Analyse. Den Parteien und Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg? Recht so! Die Kneipenhinterzimmergemeinschaft ist überholt. Einpersonenhaushalte nehmen zu? Dafür werden Freundschaften wichtiger und Treffen in unterschiedlichen sozialen Gruppen. Die Wahlbeteiligung nimmt ab? Dafür nimmt das Interesse offenbar zu an politischen Themen, die als akut und direkt empfunden werden. Von Stuttgart 21 bis zur Atomkraft, von Christian Wulff bis zur Armreichschere: Die Quoten bei politischen Talkshows sind gut, Onlinenachrichtenseiten werden immer mehr genutzt.

Auch den Piraten lässt sich ein gesellschaftlicher Nutzwert attestieren. Sie sind attraktiv für sehr junge Wähler und Politikverdrossene. Das heißt, sie übernehmen eine wichtige politische Sozialisierungsarbeit. So wie die Grünen einst die radikale Jugend in Kosovo- und Afghanistankriegsbefürworter verwandelten, und die Linkspartei ihre Anhänger vom Gewaltmonopol des Staates und dem Verzicht auf Revolution überzeugte, so machen die Piraten heute auch jene Schichten mit dem parlamentarischen Betrieb vertraut, die ihm sonst wohl fernbleiben würden. Plakate kleben, Wahlkampfzeitung machen, Programmdebatten führen: Das erzieht zum mündigen Bürger.

Nun müssen die Repräsentanten der Piraten bloß noch lernen, besser auf sich selbst aufzupassen. Gesunder Geist und gesunder Körper bedingen einander ja. Dazu gehört eine gewisse Stressresistenz. Die Zahl der Piraten mit Burn-out-Beschwerden und Kreislaufschwächen sollte drastisch reduziert werden. Für den langen Marsch in die Institutionen braucht man Kraft und Geduld. Wenn Jasmin Maurer, die 22-jährige Landeschefin im Saarland, deren Kreislauf am Wahlabend schlappmachte, wissen will, welches Schicksal ihr in 35 Jahren bevorsteht, sollte sie vielleicht einen Blick auf Renate Künast werfen.

Wird die Welt besser oder schlechter? Sie wird wohl nur anders – und bleibt doch gleich.

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