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Ein Junge protestiert in Kairo gegen Präsident Hosni Mubarak.

© dapd

Kontrapunkt: Was Ägypten und Tunesien uns lehren

Hoffnungen und Befürchtungen halten sich in der europäischen Politik die Waage, wenn es in diesen Tagen um die Entwicklung in der arabischen Welt geht. Der Freiheitstraum von Millionen junger Menschen ist ein mächtiger Faktor der Weltgeschichte.

Ein Funke hat gereicht. Wenn Millionen Menschen um ihre Zukunft fürchten, können sie Dinge in Bewegung setzen, die wie in Stein gemeißelt scheinen. Wer sich dieser Tage auf dem Atlas die arabische Welt ansieht, vom Maghreb ("Westen") am Mittelmeer bis Oman am Indischen Ozean, bekommt eine Ahnung, ein Gefühl dafür, wie eine freiere Entwicklung dieser Region die ganze Welt zum Besseren verändern könnten. In den demokratischen Ländern wird der ägyptische Aufbruch mit Sympathien und Sorge verfolgt, die Gefühle und Ahnungen sind ambivalent. Überwog bei den ersten Regungen in Tunis und Kairo nicht sogar die Skepsis? Als in Kairo die Polizei verschwand (offenkundig ein provokatorisches Manöver der alten Macht), war oft die Formel zu hören, nun drohe alles in Chaos zu versinken. Der Satz, wonach Hoffnungen und Befürchtungen sich die Waage halten, beschreibt am Tag nach Mubaraks unvollständiger Rückzugsankündigung die offizielle und die innere Haltung der europäischen Politik.

Es ist zum Thema geworden, ob die Demokratien Asche auf ihr Haupt schütten müssen, weil ihre Politik Autokraten und Diktatoren die Hand gereicht hat und ihre stabilitäts- oder geostrategischen Interessen wichtiger waren als Freiheitswerte und Menschenrecht. Nicht zum ersten Mal. Diese Diskussion wurde geführt, als der Kalte Krieg noch richtig kalt war, als die USA in Lateinamerika die Unterdrücker hätschelte, sie wurde geführt in der Entspannungszeit und nach dem Fall der Mauer. Und sie wird jetzt sicher nicht zum letzten Mal geführt. Solange die Freiheit nicht weltweit gesiegt hat, ist der Konflikt zwischen dem Machbaren und Wünschbaren im Umgang mit Diktatoren unentrinnbar. Und selbst wenn der Wunsch Wirklichkeit würde, selbst bei einer globalen Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bliebe es ja dabei, dass demokratische Gesellschaften kein Paradies, sondern unvollkommene Konstruktionen bleiben werden, in denen um Interessen und Macht gerungen wird.

Aber die Millionen auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben uns doch eine kraftvolle, schöne Lektion erteilt. Der Traum der UN-Menschenrechtserklärung, dass jeder Mensch mit gleichen Rechten geboren wird, ist nicht totzukriegen, und sollte er in den westlichen Demokratien nicht mehr geträumt werden, dann werden Menschen ohne diese Freiheit sich trotzdem nicht davon abbringen lassen. Es ist ein merkwürdiger und beeindruckender Moment der Geschichte, wenn wir gewohnheitsmäßigen Freiheitsbesitzer ausgerechnet von der arabischen Welt, die doch als Inbegriff von Stillstand und Despotie gilt, darauf hingewiesen werden, dass "Freiheit" tatsächlich ein universeller Wert ist, während wir bei uns zu Hause vertrackte Diskussionen über einen vermeintlichen Totalitarismus der Aufklärung führen oder darüber, ob gleiches Recht wirklich zwingend auch für alle Mädchen gelten muss, unabhängig von den Machtansprüchen ihrer Familien, Väter oder Brüder, die in anderen Kulturen wurzeln.

Tunesien und Ägypten lehren, dass die pragmatische Abwägung zwischen westlichen Werten und interessengeleiteten Kompromissen den Freiheitstraum unbedingt auf der Rechnung haben muss. So wenig wir wissen, wie die arabische Welt in einem oder fünf Jahren aussehen wird, so deutlich ist doch geworden, was Ursache und Quelle des Aufbruchs sind, der scheinbar allmächtige Autokraten wie Ben Ali oder Mubarak in Tage beiseite schieben können. Die Träume, Hoffnungen und Wünsche von Millionen junger Menschen, die sich ihre Zukunft nicht von altersstarren Diktatoren nehmen lassen wollen, haben sich als mächtiger erwiesen als alle abgeklärten Stabilitätsrechnungen. Wer nichts von ihnen weiß und sie nicht berücksichtigt, macht am Ende keine pragmatische, sondern eine riskante Stabilitätspolitik. Denn die Unterdrückung und Enttäuschung dieser Hoffnungen ist doch zugleich die wichtigste Quelle der islamistischen Gefahr, die (nicht zu Unrecht) unsere Sorgen und Befürchtungen ausmacht. Pragmatismus ist ein guter politischer Leitstern. Doch die westlichen Demokratien haben eine bedenkliche Neigung, als pragmatisch zu bezeichnen, was in Wirklichkeit nur kurzatmig, tagesergeben oder ökonomisch motiviert ist.

In allen arabischen Ländern ist knapp die Hälfte (oder mehr) der Bevölkerung jünger als 25 Jahre. (Nur zum Vergleich: In Deutschland fiel der Anteil 2010 zum ersten unter 25 Prozent). In der Ambivalenz unserer Länder gegenüber den dramatischen Entwicklung dieser Tage spiegeln sich die mentalen Schwächen einer im wahrsten Sinn des Wortes alt werdenden Demokratie. Ist das Gefühl unserer Politiker für die Energie, die produktive Naivität, die Opferbereitschaft junger Menschen für eine bessere Zukunft noch lebendig genug, um diese Faktoren als dynamisches, unhintergehbares Moment der Weltgeschichte zu verstehen? Unsere Kinder jedenfalls werden als Erwachsene die Welt mit ihren Altersgefährten aus Kairo und Tunis gestalten. Sie haben nur eine gemeinsame Zukunft. Es ist denkbar geworden, dass der Freiheit eine neue Gasse geschlagen wird, wenn wir ihre Hoffnungen ernst nehmen.

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