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Meinung: Kopflose Pauschale

Die CDU hat ihr Gesundheitsmodell nicht zu Ende bedacht Von Jürgen Borchert

Endlich wird die Diskussion um die Kopfpauschale spannend. Bisher war das Modell eine reine Zumutung: erstens extrem ungerecht, weil nämlich viele Millionen Niedrigverdiener und Familien schlechter, hingegen Besserverdiener besser gestellt würden. Zweitens war es wegen des steuerfinanzierten Ausgleichs mit Bedürftigkeitskontrolle monströs bürokratisch. Zusammengenommen also quasi Hartz IV hoch zehn. Zudem verfassungs wie europarechtlich unhaltbar, weil der soziale Ausgleich systemextern stattfinden sollte.

Seit vergangenem Montag führen wir plötzlich eine ganz andere Debatte. Seitdem soll nämlich der soziale Ausgleich über einen „Sozialsoli“ finanziert werden, der auf die Einkommenssteuerschuld draufgesattelt wird. Ein Beitrag neuer Art also. Das ist goldrichtig. Denn die lohnbasierte Sozialversicherung generiert die Probleme, vor denen sie schützen soll. Weil ihre Beitragsstruktur nämlich keine Freibeträge für das Existenzminimum kennt, einen linear-proportionalen Tarif hat und ausgerechnet die solidarfähigsten Schultern jenseits der Beitragsbemessungsgrenzen von ihrer sozialen Verantwortung freistellt, belastet sie die Schwächsten am härtesten: Niedrigverdiener und Familien. Familienarmut, Konsumschwäche und Massenarbeitslosigkeit haben hier ihre gemeinsame tiefere Ursache und schaukeln sich auf Grund dieser bizarren Verteilung von unten nach oben in dynamischer Wechselwirkung hoch.

Die Idee ist zudem ausbaufähig auch für die Rente. Kombiniert mit einem Korridor von Maximal- und Minimalrenten nach Schweizer Muster ließen sich auch dort die Beiträge in etwa halbieren, obwohl Beamte und Selbstständige mit ins Boot kommen. Denn Experten schätzen die ungenutzten Einkommensreserven annähernd gleich hoch der beitragspflichtigen Lohnsumme.

Bleibt die Pflegeversicherung, die als Vermögensschutzgesetz ein Riesenirrtum ist. Sie gehört abgeschafft und durch ein Leistungsgesetz mit Bedürftigkeitskontrolle ersetzt. Die Beitragslast auf den Löhnen sänke so von derzeit 35,2 auf 17,6 Prozent. Das ließe nach gängigen Schätzungen zwischen 1,7 und fünf Millionen Arbeitsplätze entstehen, wenn die Lohnkosten in diesem Umfang gesenkt werden könnten. Wenn jedoch die Arbeitnehmer, denen grundsätzlich auch der vorenthaltene Lohn in Form des „Arbeitgeberbeitrags“ zusteht, ihren Anteil in Form von höheren Nettoeinkommen erstreiten, bliebe wegen der immens steigenden Kaufkraft immer noch ein gewaltiger Aufschwungeffekt für die Wirtschaft die Folge.

Funktionieren kann das Ganze aber nur unter der Voraussetzung einer radikalen Steuerreform, welche die legalen Steuervermeidungsmöglichkeiten beseitigt, die heute die effektive Steuerlast umso mehr reduzieren, je höher die Einkommen wachsen. Die Steuerlast von Millionären liegt deshalb weit unter der 60-Prozent-Quote an direkten Abgaben, die Arbeitnehmern (einschließlich „Arbeitgeberbeitrag“!) abgeknöpft werden; zudem bezahlen die – relativ zu ihrem Einkommen – mehr Verbrauchssteuern. Könnte man diese überfällige Reform realisieren, stellt sich aber eine überraschende Frage: Weshalb dann überhaupt noch die Kopfpauschale, deren Philosophie mit der Idee des „Sozialsoli“ diametral über Kreuz liegt? Warum mit ihr wieder erst neue Ungerechtigkeiten schaffen?

Verfassungsrechtlich ist das nun konkretisierte Merkel-Modell auch weiterhin skandalös: Die dreiköpfige Familie mit 2500 € brutto monatlich soll trotz Gesundheitssoli 420 € jährlich mehr bezahlen, während der Single mit 3334 € im Jahr um 1968 € entlastet wird! Und auch die europarechtlichen Bedenken bleiben. Alles in allem beinhaltet die neue Version der Kopfpauschale also immer stärkere Argumente für eine umfassende Bürgerversicherung. Genau in diese Richtung weisen auch die Verfassungsgerichtsurteile der letzten Jahre.

Der Autor ist Richter am Hessischen Landessozialgericht.

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