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Meinung: Kostgänger auf der Suche nach Liebe Eine Hauptstadtkommission hilft, aber sie rettet nicht

Ja doch, in Berlin gibt es eine Neigung zur Wehleidigkeit. Problemkinder sind so.

Ja doch, in Berlin gibt es eine Neigung zur Wehleidigkeit. Problemkinder sind so. Oft ein bisschen nörgelig, erpicht, Aufmerksamkeit zu erregen, und voller Gier nach Zärtlichkeit. Wenn was aus ihnen werden soll, muss man sich um sie kümmern.

Was im Kleinen gilt, stimmt auch im Großen. Berlin ist die deutsche Hauptstadt. Immer mehr Bundesbürger reisen nach Berlin, wo es seit 13 Jahren keine triste Mauer mehr zu bestaunen gibt, sondern viele neue Bauten. Den meisten gefällt, was sie da sehen. Im fernen Freiburg, Mönchengladbach oder Passau grummeln sie vielleicht noch immer über die grandiose Geldverschwendung, die da an der Spree stattfände. Aber wenn sie erst einmal am Reichstag waren, oder Unter den Linden wandeln, ändern sich die Gefühle. Dass Berlin unter einer Identitätskrise leidet, spüren die Gäste nicht. Sie hören nur, die Stadt sei pleite. Aber beides hat miteinander zu tun. Wolfgang Thierse, der Bundestagspräsident, hat das gestern ausgesprochen. Anders als beim Bürger sei Berlin in der politischen Klasse nach wie vor nur geduldet, stellte er fest. Daran könne freilich auch die immer wieder geforderte Hauptstadtkommission nichts ändern.

Recht hat er. Zwar liebäugelte der Bundeskanzler einmal mit einem solchen Gremium, und der Regierende Bürgermeister stellte den Gedanken gar dem Bundespräsidenten vor. Johannes Rau und Klaus Wowereit haben das Projekt inzwischen einvernehmlich, aber stillschweigend zurückgestellt. Die Deutsche Nationalstiftung ist nämlich dabei, unter der Leitung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt und Sachsens Ex-Regierungschef Kurt Biedenkopf Gedanken zur künftigen Rolle Berlins in einem föderalen System zu sammeln. Im Oktober werden sie die Ergebnisse im Schloss Bellevue vorlegen.

Dann freilich muss man darüber diskutieren, was Berlin künftig sein soll. In dieser Zeitung haben prominente Mitbürger, unter ihnen Edzard Reuter und Richard Schröder, schon vor Wochen damit angefangen. Ob man den Kreis, der das Thema debattiert, dann Kommission, Konvent oder wie auch immer nennt, ist zweitrangig. Mehr als beratenden Charakter kann er ohnedies nicht haben. Berlin tut gut daran, als Mitglieder nicht nur frühere Regierende Bürgermeister ins Gespräch zu bringen, sondern sich zu erinnern, dass diese Nation ihre Kraft aus der Vielfalt schöpft. Berlin als Kostgänger, der außer Geld nun auch noch Liebe fordert – das wäre der falsche Hauptstadtanspruch. Vielleicht überlegen wir zur Abwechslung einmal, wie die Stadt der Nation dienen kann.

Gerd Appenzeller

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