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Meinung: Krieg der Einzelheiten

In der BND-Debatte zeigt sich, dass in Deutschland jeder Sinn für außenpolitische Maßstäbe verloren gegangen ist

Von Hans Monath

September 2001. Beim nächtlichen Flug zurück über den Atlantik macht Joschka Fischer einen verstörten Eindruck. Zehn Tage ist es her, dass die brennenden Twin Towers des World Trade Centers kollabiert sind. Auf dem Rückweg von seinem Solidaritätsbesuch in Washington und New York phantasiert der deutsche Außenminister über kommende Katastrophen. Der apokalyptische Ausbruch lässt Zuhörer ratlos zurück. Wovon redet der Mann?

Was Fischer in dieser Nacht an Bord des Airbus umtreibt, sickert erst viele Monate später durch. In den Ruinen des ebenfalls getroffenen Pentagons hat ihm der US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz frank und frei erklärt, dass nun endlich die Gelegenheit da sei, den schon lange gewünschten Krieg gegen Saddam Husseins Irak zu führen. Später wird Wolfowitz diese Darstellung bestreiten. Die Welt ist kompliziert.

Seit dem Besuch im Pentagon ist für die Berliner Regierung klar: Schröders „uneingeschränkte Solidarität“ gegenüber Amerika bedeutet keine Blankovollmacht. Schnell relativiert er: Die Deutschen sind bereit zu militärischen Risiken, sagt er im Bundestag. Aber nicht zu militärischen Abenteuern.

Die Einschränkung ist die Geburt einer deutschen Doppelstrategie gegenüber dem großen Partner. Berlin will Sicherheit für seine Bürger und den Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus. Berlin will auch, dass Washington seine weltweite Ordnungsfunktion nicht verliert. Aber nichts spricht aus Sicht der rot-grünen Außenpolitiker für einen Angriff auf den Irak. Alles spricht dagegen.

Seit den Eröffnungen im Pentagon beobachten deutsche Diplomaten argwöhnisch, wie die „Falken“ in Washington immer mehr Gelände gewinnen. Es dauert nicht einmal ein Jahr, dann haben sie sich durchgesetzt. Es ist dieser Krieg des großen Partners und der politische Kampf der rot-grünen Regierung gegen ihn, der rund vier Jahre später der neuen Regierung unter Angela Merkel die „BND-Affäre“ bescheren wird.

Große Fragen wirft die auf: Hat Gerhard Schröder nur eine Art politischen Budenzauber veranstaltet, als er versprach, sein Land werde sich nicht an diesem Krieg beteiligen? Ist die rot-grüne Friedenssuada als Täuschungsmanöver einer Regierung entlarvt, die in Wirklichkeit bereitwillig mitbombte?

Was immer die Opposition behauptet: Es gibt nach manchen richtigen und vielen falschen Vorwürfen noch immer kein starkes Indiz dafür, dass Rot-Grün die rote Linie überschritten hat. Schröder hat keine Soldaten zum Kämpfen in den Irak geschickt. Aber er hat auch nicht die Nato verlassen.

Jenseits des Streits um tausend Einzelheiten aber fällt auf, mit wie wenig Sinn für reale Zwangslagen, für das große Machtgefälle zwischen Berlin und Washington, für Abhängigkeiten und Proportionen die Debatte geführt wird. Thomas Mann hat (sehr spät) die „machtgeschützte Innerlichkeit“ des deutschen Kaiserreichs beklagt. Gemeint war jenes aufgeplusterte Kulturbewusstsein, das einen wichtigen Baustein des deutschen Überlegenheitsgefühls gegenüber den westlichen Demokratien bildete.

Hundert Jahre nach Wilhelm II. zeigt auch die BND-Debatte deutliche Züge einer politisch-gesellschaftlichen Bewusstseinstrübung – nur handelt es sich heute um „moralgeschützte Innerlichkeit“. Wo ist neben den existenziellen Fragen nach der Achtung der Menschenrechte der kühle Blick auf Machtmechanismen, auf das Kalkül anderer „Player“ und eigene Interessen? Vor allem sich selbst und die eigene Befindlichkeit im Blick – das scheint eine zähe Konstante deutscher Weltsicht zu sein. Was aber tut man, wenn man abhängig ist von einem Partner, der gemeinsame Werte – Stichwort Guantanamo – völlig anders auslegt?

Dezember 2001. Zweieinhalb Jahre nach den Bombardements während des Kosovokonflikts führen Schröder und Fischer die Deutschen schon wieder in einen Krieg – gegen Terroristen und gegen die Taliban in Afghanistan. Das eigene Lager will nicht. Schröder erzwingt die Zustimmung mit der Vertrauensfrage. Helmut Kohl hat wenige Jahre zuvor sein Land mit Milliardenzahlungen von der Teilnahme am ersten US-Feldzug gegen Saddam Hussein freigekauft.

August 2002. Rot-Grün steht kurz vor der Bundestagswahl mit dem Rücken zur Wand. Als die USA mit dem Säbel rasseln, erklärt Schröder, sein Land werde sich keinesfalls an einem Irakkrieg beteiligen. Auch die antiamerikanischen Untertöne der Wahlkämpfer kommen gut an. Schnell vereisen die Beziehungen zu Washington.

Der Kanzler weckt Erwartungen, die er später nicht erfüllen kann. Die Partnerschaft zu den USA und die enge Kooperation auch in Sicherheitsfragen sind für Deutschland existenziell. Auch darüber spricht Schröder in jeder Rede. Gehört werden die Distanzsignale, nicht das Bekenntnis zur Zusammenarbeit, die auf allen Ebenen weiterläuft. Zudem ist das rot-grüne Nein zum Irakkrieg sehr realpolitisch begründet.

November 2002. Ungeachtet der Entfremdung fordern die Amerikaner von den Verbündeten Hilfe bei dem geplanten militärischen Schlag gegen den Irak. Am 27. November erklärt Gerhard Schröder, Deutschland werde sich an einer militärischen Operation nicht beteiligen, aber Überflugrechte gewähren, einen reibungslosen Truppentransit ermöglichen und US-Einrichtungen in Deutschland schützen.

Die politische Linke in Deutschland schreit auf: Muss man dem Krieg auch noch die Hand reichen? Friedensbewegte sehen Schröder jetzt – schon Jahre vor der späteren BND-Debatte – als Lügner entlarvt.

Neben Großbritannien wird Deutschland zum zweitwichtigsten Helfer der Amerikaner im Irakkrieg – vor aller Augen. Die Bundesrepublik bleibt eine zentrale Basis des US-Militärapparats. Das ist für den Erfolg des Feldzugs weit wichtiger, als es ein seltsamer Verteidigungsplan („Schneckenplan“) sein könnte, dessen von der „New York Times“ behauptete Bedeutung sich längst relativiert hat.

Ende 2002 fällt die Entscheidung, zwei BND-Agenten nach Bagdad zu schicken. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist damals als Kanzleramtschef dabei. Zwei Motive sind wichtig: Die Berliner Kriegsgegner wollen ein von US-Quellen unabhängiges Lagebild. Und der BND soll helfen, ein Desaster wie das im Kosovo-Krieg zu vermeiden. Damals bombardierten US-Flugzeuge die chinesische Botschaft in Belgrad.

Januar 2003. Wieder ist in Deutschland Wahlkampf, wenn auch nur in Niedersachsen. Im Kanzleramt ist die Kulturelite, darunter Günter Grass, zu Gast. Wie häufig, wenn Intellektuelle gemeinsam Politik treiben, geht das gründlich schief. Sie bestürmen Schröder, sein Nein zum Irakkrieg sei unglaubwürdig und bisher unbelegt, er müsse ein Zeichen setzen.

Wenige Tage später ruft der Wahlkämpfer in Goslar ins Publikum: „Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmen wird.“ Die weltpolitische Botschaft aus der deutschen Provinz schlägt hohe Wellen.

5. Februar 2003. Im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt herrscht nach dem Auftritt von US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat Champagnerstimmung. Nach dem Vortrag, in dem auch ein Dia mit der Zeichnung eines mobilen Bio- und Chemiewaffenlabors eine zentrale Rolle spielt, jubeln die Helfer von Rot-Grün: „Er hat nichts.“

Sie sind sich ihrer Sache sicher, denn Powell breitet auch BND-Material aus – das kennen sie in Berlin. Wichtig ist: Die Bush-Regierung will an die Beweise glauben, an denen die Deutschen zweifeln.

20. März 2003. US-Kampfbomber greifen Ziele in Bagdad an. Schröder erklärt wieder, dass sich Deutschland „weder indirekt noch direkt“ am Krieg beteiligen werde und zählt Überflug-, Transitrechte und die Bewachung der US-Kasernen auf. Wenn es einen Widerspruch zwischen beiden Aussagen gibt, dann hat er ihn wieder öffentlich benannt.

Februar/März 2006. Nach wochenlanger Debatte legt die Bundesregierung ihren Bericht über die Aktivitäten des BND, die Verschleppung eines Deutsch-Libanesen und fragwürdige Verhöre im Antiterrorkampf vor. Das Misstrauen der Opposition genährt haben unter anderem Aussagen wie die von Außenminister Steinmeier, der kurz zuvor erklärt hat, die BND-Agenten hätten nur Koordinaten von Krankenhäusern und Botschaften („non-targets“) gemeldet. Die Wirklichkeit ist weniger klinisch rein, als er behauptet.

Die Opposition, die sonst wenig Resonanz findet, stürzt sich begeistert auf das BND-Thema. Aber auch an sie richten sich Fragen.

Hätten sich die heutigen Grünen-Führungspolitiker damals in verantwortlicher Funktion tatsächlich geweigert, militärische Informationen an die USA zu geben, wenn damit amerikanischen Soldaten Gefahren erspart geblieben wären? Hätten sie wenige Monate nach 9/11, als Hamburg gerade als Terrorzentrale enttarnt war, tatsächlich darauf verzichtet, Terrorverdächtige durch deutsche Beamte in Guantanamo und Syrien verhören zu lassen? Die unbequemen Fragen laden die Grünen heute bei Fischer ab, als ob sie selbst damit nie etwas zu tun gehabt hätten.

Aber es ist mehr als zweifelhaft, ob der grüne Wunsch nach moralischem Meister-Proper-Glanz wirklich als einzige Richtschnur von Sicherheitspolitik im Antiterrorkampf dienen kann. Wenig spricht im Moment dafür, dass die Grünen noch einmal einen Politiker wie Joschka Fischer hervorbringen, der ihrem nach zwei rot-grünen Kriegen offenbar neu erstarkten Willen zum unbedingten Idealismus hartnäckig seinen eigenen Wirklichkeitssinn entgegensetzt.

Ähnliche Fragen richten sich an die FDP. Den Liberalen war es stets zu wenig, was Rot-Grün den Amerikanern im Streit um den Irakkrieg an Hilfe bot. Genschers Partei unterstützte sogar Washingtons Versuch, das auf Konsens gründende Nato-Bündnis zu einer „toolbox“ (zu einem Werkzeugkasten) amerikanischer Alleingänge zu machen, aus der sich die Supermacht bedienen kann (so im Streit über Awacs für die Türkei).

Wenn es Guido Westerwelle um den Gegensatz von Botschaft und Handeln bei Rot-Grün ginge, müsste er nur die Suchmaschine „Google“ anwerfen. Er will aber einen Untersuchungsausschuss.

Nur die Linkspartei bleibt sich treu. Sie ist so antiamerikanisch, wie sie eben ist.

Jetzt kommt das traurigste Kapitel dieser Geschichte: Die Bundesregierung hat einen Bericht vorgelegt, der detaillierter und transparenter ist als alles, was je eine deutsche Behörde zu Geheimdienstaktivitäten veröffentlicht hat.

Aber sie hat im entscheidenden Moment nicht einmal versucht, in die Debatte einzugreifen und Maßstäbe zu setzen. Längst geht es nicht mehr um rot-grüne, sondern um deutsche Außenpolitik. Weil die Regierung vor dem politischen Kampf flüchtete, beherrschte die Diskussion um tausend Einzelheiten den öffentlichen Raum. Sie war und ist nicht zu gewinnen.

Und die Akteure von damals? Gerhard Schröder wartet lieber auf die Apanage der russischen Gasprom. Joschka Fischer hat sich weitgehend ins Privatleben zurückgezogen, ist über die Debatte offenbar mehr befremdet als alarmiert und brummelt aus der Ferne angeblich: „Alles gaga!“

Schließlich Frank-Walter Steinmeier, die Zentralfigur der Affäre in der heutigen Bundesregierung. Kann der Ex-Kanzleramtschef nur kämpfen, wenn er sich gerade auf der Siegesstraße wähnt, oder auch dann, wenn er unter Druck ist?

Als das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) im Januar die Darstellung der zwei BND-Leute in Bagdad für glaubwürdig erklärte, wonach sie nie Saddam Husseins Aufenthalt im Stadtteil Mansur zur Bombardierung weitergegeben haben, ist Steinmeier obenauf. Damals prägte er im Bundestag einen großen Satz.

Im Umgang mit den Vorwürfen, so donnerte er, müsse die Politik die „Rationalität, das Selbstbewusstsein und die Verantwortungsbereitschaft zeigen, die eines Landes wie Deutschland würdig sind".

Wo ist Steinmeier jetzt in der Debatte? Es muss derzeit sehr, sehr still sein im Chefzimmer des Auswärtigen Amtes, wenn gerade keiner der zahlreichen Besucher auf dem schwarzen Ledersofa sitzt. Hat die Außenpolitik in der Regierung gar keine Stimme mehr, die sie den eigenen Bürgern erklärt?

P.S. Colin Powell hat längst eingeräumt, er habe vor den UN Unsinn erzählt. Es soll aber im BND noch immer Fachleute geben, die davon überzeugt sind, dass Saddam Hussein tatsächlich über mobile Labors verfügte. Die Welt ist kompliziert. Nur deshalb müssen Politiker Entscheidungen treffen.

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