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Meinung: Krieg essen Seele auf

Erst Abu Ghraib, jetzt ein mutmaßliches Massaker: Die US-Armee verliert ihre Werte

In Besatzungsregimen verrohen die Soldaten. Nicht einmal die Werteordnung einer Demokratie schützt davor. Eigentlich ist unfassbar, was US-Marines im November in Haditha irakischen Zivilisten angetan haben sollen. Nach der Explosion einer Bombe am Straßenrand, die einen Kameraden tötete, drangen sie in mehrere Häuser ein und erschossen 24 Menschen, von denen sie weder angegriffen noch bedroht worden waren, aus nächster Nähe. Darunter waren Kinder und Frauen, das jüngste Opfer ist ein einjähriges Mädchen. Von kaltblütigem Mord sprechen US-Abgeordnete, die detailliert über die Untersuchungen informiert wurden.

Die Tat bleibt unbegreiflich, auch wenn man versucht, sich in die Ausnahmesituation im Zentrum des irakischen Widerstands zu versetzen, in die latente Todesangst und die Rachegefühle von Soldaten, die über Monate täglich den Tod oder die Verstümmelung von Kameraden erleben. Es ist pervers: Offiziell ist das US-Militär in den Irak gekommen, um die Menschen von der Saddam-Diktatur zu befreien. Doch einige Soldaten führen sich selbst wie Henker auf. Gewiss, bis zum Beweis gilt die Unschuldsvermutung. Die US-Regierung betont, selbst wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten, sei es ein Einzelfall – untypisch für den Charakter der amerikanischen Präsenz im Irak. Aber ein Massaker an Zivilisten wird das Bild vom Irakkrieg ebenso moralisch kontaminieren wie die Misshandlungen und sexuellen Demütigungen Gefangener in Abu Ghraib. Wahrscheinlich wird die Welt von weiteren Kriegsverbrechen erfahren, je länger die Besatzung andauert.

Es ist offenbar eine Gesetzmäßigkeit: Auch die Streitkräfte von Demokratien sind nicht immun gegen die Brutalisierung und Entmenschlichung durch den Alltag einer Besatzung mit Widerstand – siehe den Algerienkrieg der Franzosen, Vietnam, wo das Massaker von My Lai 1969 zum politischen Wendepunkt wurde, oder Israels Erfahrung in den Palästinensergebieten. Ganz zu schweigen von den Praktiken autoritärer Regime, etwa der Russen in Afghanistan oder Tschetschenien. Die Natur des Konflikts bringt die Besatzer zwangsläufig in einen Gegensatz zur Bevölkerung. Selbst wenn am Anfang der ehrliche Wille stand, Zivilisten vor Gewalt zu schützen, weicht er allmählich dem Misstrauen, dass „die doch alle unter einer Decke stecken“. Schutzbefohlene werden bald als Feinde betrachtet.

Die einzig verlässliche Gegenmaßnahme wäre, die Besatzung zu beenden. Dieser Weg aber steht den USA nicht offen, jedenfalls nicht so bald. Irak sich selbst zu überlassen, hieße, die Menschen dort einer noch brutaleren Zukunft auszusetzen, in der die Gewalt weiter eskaliert. Es gibt heute keine Macht außer dem US-Militär, die dem Einhalt gebieten kann. So bleibt nur, mit aller Härte die Achtung von Regeln und Werteordnung in den eigenen Reihen durchzusetzen – härter als nach dem Folterskandal von Abu Ghraib, für den wenige Täter begrenzte Gefängnisstrafen erhielten.

Zu den sexuellen Demütigungen, die insbesondere die arabische Welt empörten, kommt nun der Mordvorwurf. Die USA müssen ihn aufklären und, falls er sich erhärtet, strengstens ahnden, auch um ihre Soldaten von einer Wiederholung abzuschrecken. Für Präsident George W. Bush und seine Republikaner wird das mutmaßliche Massaker von Haditha zu einer weiteren schweren Hypothek.

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