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Meinung: Künstliche Staaten, echte Kriege

Von Irak bis Afghanistan: Was nicht zusammengehört, zerfällt Von Michael Wolffsohn

Unsere Staatenwelt zerbröselt: erst Jugoslawien, dann die Sowjetunion und nun Irak und Afghanistan. Bald folgen der Iran, Sudan, Kongo, Nigeria und andere afrikanische Staaten. Und wird China die Uiguren und Tibeter wirklich dauerhaft durch Blut, Eisen und chinesische Siedler an sich ketten können?

Die Völkergemeinschaft und das Völkerrecht klammern sich konzeptionell seit dem Ende des Ersten Weltkrieges an die Fiktion territorialer Selbstbestimmung und damit an die Einheit von Nation und Staat. Die Fakten sagen: Es gibt diese Einheit nicht.

Wo wir hinschauen: Die staatlichen Grenzen entsprechen nicht den nationalen oder ethnischen, sprachlichen, religiösen und anderen Beziehungsfeldern. Eine Gruppe herrscht meist mit Gewalt und fast immer undemokratisch und ohne Rücksicht auf Minderheitenrechte. Das Zerbröseln dieser Staaten ist daher die emotional und rational logische Folge – die von Politik und „Experten“ kaum wahrgenommen wird. Man versucht lieber, solche Staaten zu „festigen“, was dem Versuch gleichkommt, den Kreis in ein Quadrat zu verwandeln.

Beispiel Afghanistan: Dieser Vielstammesstaat war nie eine wirkliche Einheit. Zentrifugale Kräfte dominierten, das Zentrum war (sofern es bestand) immer schwach. Trotzdem helfen wir, eine Zentralregierung aufzubauen. Mit oder ohne Karsai, mit oder ohne Taliban ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt.

Beispiel Kosovo: Ein neues Kunstgebilde entwickelt sich mit unserer Hilfe. Entstehen aber wird, organisch und ganz gegen unsere Bemühungen, Kosovo plus Albanien gleich „Groß-Albanien“ minus dem Gebiet, wo überwiegend Serben leben, das zu Serbien kommen wird.

Bosnien-Herzegowina: Wir „stabilisieren“ ein dreiteiliges Kunstgebilde. Dauerhaft wird sich der kroatische Teil mit Kroatien verbinden, der serbische mit Serbien und der muslimische wird bestenfalls mit einem der beiden konföderiert oder zerrieben.

Beispiel Kongo: Er ist ein künstliches Produkt kolonialhistorischer und postkolonialistischer Lineale. Innerhalb der dramatischen Vielfalt und der regional unterschiedlich verteilten Rohstoffsegnungen zerfällt das Land strukturell in Ost- und Westteile, die so gut wie nichts miteinander zu tun haben wollen. Weshalb sollte sich der auch sprachlich ganz und gar anders geprägte Westen des Landes der nun „demokratisch“ legitimierten, korrupten Kabila-Clique aus dem Osten fügen? Weil „wir“ es wollen? Unser Willen ist kein überzeugendes Bindemittel.

Beispiel Irak: Der ist in Nahost nur der erste, sicher aber nicht der letzte Kunststaat, der in einem echten Krieg zerfällt. Dieser Krieg hätte eines nicht zu fernen Tages auch ohne Eingreifen der USA teils von innen begonnen, teils von außen begleitet; wie im Libanon oder im Sudan. Auch hier versucht die Völkergemeinschaft, diese Staaten durch „Friedensschlüsse“ wieder zu stabilisieren. Sie könnte genauso gut „Pattex“ oder „Uhu“ verwenden.

Diese und andere zerbröselnde Staaten könnten nur mit einer föderativen Struktur überleben, entweder als Bundesstaat („Bundesrepublik“) oder als Staatenbund.

Das gilt auch für den Iran, der nur scheinbar eine Einheit ist. Gerade in der jetzt höchst heiklen Situation ist der persisch-schiitisch dominierte Iran von innen heraus gefährdet. Von den knapp 70 Millionen Iranern sind nur rund 51 Prozent mehrheitlich Perser. 24 Prozent sind turksprachige Aserbaidschaner, die sich lieber gestern als heute dem Staat „Aserbaidschan“ anschlössen.

Kann man den Führungen der USA und Israels so viel Weitsicht zutrauen, dass sie Teheran folgendes Signal schicken? „Wenn ihr atomar aufrüstet, lassen wir eure innenpolitischen Konflikte eskalieren und destabilisieren euch.“ Washington und Jerusalem hätten dann konzeptionell mehr von der Welt-Unordnung verstanden als die meisten Politiker, Publizisten und Wissenschaftler der Welt.

Der Autor unterrichtet Geschichte an der Bundeswehruniversität in München.

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