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Kulturtransfer: Ringkampf der Religionen

Über die geistigen Quellen des Abendlandes: Ist die Rede vom christlich-jüdisch-muslimischen Europa mehr als eine Floskel?

Was war wirklich passiert? Die Erbschafts-Soap geht so: Ein König besaß, angeblich, einen Wunderring, den er jedem seiner drei Söhne als Unterpfand der Thronfolge versprach. Das magische Schmuckstück soll jeden, der es trägt und seinen Kräften traut, zum guten Menschen machen. Der Monarch stirbt, der Zwist beginnt: So berichtet vom Nachlass-Zoff der Kulturen Religionsreporter Gotthold Ephraim Lessing. Bislang war der Super-Reif, heißt es in seinem Dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“, von Generation zu Generation jeweils dem Lieblingsspross des Herrschers vermacht worden. Nun hatte ein Vater dreier Prinzen, die ihm gleich lieb waren, zur Lösung des Erbschaftskonflikts Replikate anfertigen lassen. Jeder Sohn präsentiert sein Exemplar – und fordert den Thron! Wer hat den echten Ring? Ging der – irgendwann – verloren? Gab es ihn überhaupt?

Lessings berühmte Ringparabel inszeniert die Rivalität zwischen Judentum, Christentum und Islam als Familienkrach – verpackt in einen mittelalterlichen Dialog zwischen dem liberalen Sultan Saladin und dem Juden Nathan. Seit das Stück, Ende des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter abschwellender Türkengefahr und hundert Jahre nach Europas schlimmstem Religionskrieg, auf die Bühnen kam, wurde die These des Dichters, absolute Wahrheit im Besitz einer Institution gebe es nicht, von Glaubenshütern als subversive Blasphemie empfunden. Die Ringparabel avancierte zur Schlüsselerzählung eines aufgeklärten Toleranzbegriffes – der uns heute, 240 Jahre später, als Binsenweisheit erscheint: Unsere Gesellschaft, die einerseits erregt debattiert, ob der mehr oder weniger zivilisierte Islam zu ihr „gehört“, empfindet andererseits schon die Vorstellung, eine Religion könne den Alleinbesitz der Wahrheit beanspruchen, als unerträglich.

Dass historische „Wahrheiten“ zwischen Fälschung und Vermittlung nicht immer „objektiv“ herauszuschälen sind, lernt der kritische Medienkonsument. Solchem postmodernen Achselzucken entspricht auf metaphysischer Ebene die Ansicht, letztgültige religiöse Wahrheit sei sowieso nirgendwo zu haben – und eine Interpretation der Ringparabel, die Multikulturalismus mit konfessioneller Indifferenz gleichsetzt und in diesem Sinn als Frucht der Aufklärung vorführt. Zugleich illustriert Lessings Szenario die Vorstellung, irgendwie sei aus dem Trialog Islam– Christentum–Judentum das kulturelle Vermächtnis entstanden, in dem wir leben. Dem Wunsch, solche Identitätsprojektion mit einem Versöhnungsappell zu verbinden, verdankte sich bereits der „Nathan“-Boom auf deutschen Bühnen nach dem 11. September 2001.

Begegnet uns in der Ringparabel das kulturelle Wurzelwerk unserer Gesellschaft, eine Deutung unserer multikulturellen Gegenwart? Lessing, der publizistische Pionier für die Verbreitung der Aufklärung in Deutschland, hat selbst offengelegt, dass es zu seinem Stoff eine Vorgeschichte gibt. Im Brief an den Bruder Karl in Berlin schreibt er 1778, sein geplantes Stück werde jenen Theologen, die ihn wegen der Edition angeblich atheistischer Traktate attackieren, einen noch „ärgeren Possen“ spielen. Im „Nathan“ steht der liberale Muslim Saladin einem jüdischen Kaufmann, dem Überlebenden eines Pogroms, gegenüber; Christen agieren hier tendenziell fanatisch, sind aber zum Teil mit dem übrigen Personal schicksalhaft verwandt. Saladin will von Nathan Kredit und ein kluges Gespräch; er stellt dem Untertan die verfängliche Frage nach der wahren Religion und kriegt von ihm die Ringparabel. Lessing schreibt: Falls der Bruder den Kern des Stücks erfahren wolle, „so schlagt das Decamerone des Boccaccio auf“. In dieser Kollektion des 14. Jahrhunderts entgeht „der Jude Melchisedek durch eine Geschichte von drei Ringen einer großen Gefahr, die Saladin ihm bereitet“. Boccaccios Sultan ist hinterhältig und stellt eine Fangfrage, um den Juden „unter einigem Schein von Recht“ zu berauben; in der Aufklärungsfassung wird diese Figur veredelt.

Doch nicht erst Lessing hat älteres Material verwendet. In einer dem „Decamerone“ um 40 Jahre vorausgegangenen Version der Parabel, einem Roman Busone da Gubbios, heißt der Jude Absalon und darf, da er verhasst ist, ohne Skrupel ausgetrickst werden; der Sultan braucht Geld zum Krieg gegen die Christen. An einem weiteren Vorläufer aus der Sammlung „Cento Novelle“ wiederum fällt auf, dass die Sultansfrage nur Sarazenen und Juden erwähnt, der Jude aber das Christentum hinzunimmt. Während jüngere Varianten die Wahrheitsfrage in der Schwebe belassen, heißt es in „Cento Novelle“: Der Vater droben kenne den besten Glauben. Ist das die Ursprungspointe? Im 14. Jahrhundert kursieren noch weitere, ähnliche Gleichnisse. Die „Weltchronik“ des Wiener Patriziers Jans Enikel erzählt vom Edelsteintisch des „Salatin“, den dieser auf der Suche nach seinem Seelenheil in drei Teile hauen lässt: für den Gott der Juden, den Gott der Christen und den „got Machmet“. Und in dem aus Deutschland oder England stammenden Konvolut „Gesta Romanorum“ hinterlässt ein König (Christus) drei Söhne: Der eine (die Juden) erbt das Land, der andere (Heiden) den Schatz, der dritte (Christen) einen kostbaren Ring, den Glauben. Die drei streiten, wer das beste Erbe besitze.

Tolerante Nivellierung? Gläubige Toleranz? Proklamation der eigenen, wahreren Wahrheit? Dass in diesen Ringkämpfen um Glaubensdominanz der Islam – gleichberechtigt, nachgeordnet oder als Gegner – „dazugehört“, ist offensichtlich. Ebenso wenig lässt sich ignorieren, dass Kulturtransfer und -export durch Araber und andere Muslime das Abendland bereichert, manchmal verändert haben: vom weißen Elefanten Harun al Raschids bei Karl dem Großen über Kosmetika der Kreuzritter, die europäische Heimkehr des Aristoteles und seiner Kollegen auf dem Umweg orientalischer Rezeption, dem Siegeszug des Kaffees bis zur exotischen Präsenz von „Beutetürken“ im 18. Jahrhundert. Die Geister scheiden sich an der Qualitätswertung des „Dazugehörens“. Wenn Martin Luther 1541 dichtet: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, und steur’ des Papsts und Türken Mord“, treten in diesem sogenannten Kinderlied „die zwei Erzfeinde Christi und seiner heiligen Kirche“ nur als Antipoden auf. Dass Deutschlands stärkste religiöse Minorität heute, absondiert oder integriert, ein Teil der Gesellschaft sei, ist eine Plattitüde. Aber hat Mohammed, dessen Religionsgründung recycelte Traditionen der Christen und Juden verwendete, geistige Ursprünge der „Alten Welt“ mitgestaltet?

Zur Interpretation der Ringparabel als multikulturelle Utopie gehört auch die Al-Andalus-Erzählung von einem „Goldenen Zeitalter“ auf der Iberischen Halbinsel. Die im 19. Jahrhundert entwickelte Vorstellung, von der arabischen Einnahme 711 bis zur christlichen Reconquista 1492 habe sich dort die fruchtbare Koexistenz dreier Religionen entfaltet, ist im 20. Jahrhundert weiterentwickelt, aber auch demontiert worden. Wahr daran ist, dass kaum anderswo in Europa Judentum, Christentum und Islam in so kommunikativer Nähe lebten; dass die Bedingungen dafür besser waren als unter dem folgenden Inquisitionsregime der katholischen Rassisten oder im „Dritten Reich“. Gleichwohl gab es Pogrome, Unterdrückung, ja Vertreibungen in dieser Epoche, keine Egalité im modernen Sinne.

Die Al-Andalus-Verklärung wirkt sympathisch: als philomuslimische Projektion. Ihr theologisches Pendant findet sich im Umarmungsprojekt der „abrahamischen“ Religionen. Im Zeitalter der Ökumene, nach dem Holocaust, wird aus der Verehrung aller Monotheisten für den Patriarchen Abraham ein interreligiöses Konsenskonzept: Obwohl Abraham als Vater des auserwählten Volkes Israel mit dem Ahnherrn der Ismaeliten (=Araber) oder dem christlichen Glaubensvorbild Abraham, „unser aller Vater vor Gott“ (Paulus), schwer zu kombinieren ist. Das II. Vatikanische Konzil (1962–65) hat diese Quadratur des Kreises versucht: Es verkündet Religionsfreiheit, bekräftigt den eigenen Absolutheitsanspruch, akzeptiert alles, was in anderen „Religionen wahr und heilig“ sei, alle Gemeinsamkeiten, die „einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“. Es würdigt die Juden als „Abrahams Stamm“, die Christen als „Söhne Abrahams“ und die ebenso vom „Heilswillen“ umfassten Muslime samt ihrer dem Beispiel Abrahams nacheifernden Hingabe an Gott.

Ringparabel auf katholisch: eine Projektion aus dem 20. Jahrhundert? Tatsächlich scheint die früheste Version des Religionsvergleichs eher dem „Goldenen Zeitalter“ zu entstammen, der Nachbarschaft von Al-Andalus. Sie steht in der Sammlung „Schebet Jehuda“, die – erst 1480 gedruckt – eine mündliche, ältere Tradition bewahrt. Szene in Nordspanien: Don Pedro plant Krieg gegen die Ungläubigen. Berater lenken den Hass des Königs auf die unverschämten Juden, die „dir ins Gesicht sagen werden: Dein Bekenntnis ist ein irriges“. Zum Beweis wird Ephraim Sancho vorgeladen und befragt, „welches von beiden Gesetzen das bessere sei, das Gesetz Jesu oder das deinige“.

Der Jude erzählt ein Gleichnis: Sein verreister Nachbar habe jedem seiner zwei Söhne einen Edelstein hinterlassen; die beiden hätten Ephraim nach der Eigenart und dem Unterschied der Steine gefragt. Als er sie dafür an den Vater selbst verwies, einen kompetenten Juwelier, hätten sie ihn misshandelt. Der König nennt diese Tat unrecht. Der Jude präsentiert die Pointe: „Siehe, auch Jakob und Esau sind Brüder, von denen jeder einen Edelstein erhielt, und Ihr fragt nun, welches der bessere sei. Mögt Ihr doch einen Boten an den Vater im Himmel senden, denn das ist der größte Juwelier, er wird den Unterschied der Steine schon angeben.“ Jakob (=Israel), der Enkel Abrahams, steht in dieser jüdischen Parabel seinem Bruder gegenüber, dem Repräsentanten der Edomiter (= Roms / des Christentums). Im „Schebet Jehuda“ gibt es nur zwei Kontrahenten, Christentum und Judentum; keiner der Steine wird als Fälschung bezeichnet. Veröffentlicht wurde diese Ausgrabung von einem evangelischen Judaisten in dem „Gedenkbuch“, das der Deutsch-Israelitische Gemeindebund zur Hundertjahrfeier des „Nathan“ herausgab – 1879, im „Gründungsjahr“ des modernen Antisemitismus. Eine hoffnungsvolle Projektion, auch dies.

Erfahrung und Wunschdenken haben, wen wundert’s, die frühen Versionen der Ringparabel geformt. Die redaktionelle Zugabe des Wunschdenkers Lessing besteht vor allem in seiner Pointe: Den Streit-Söhnen wird von einem Richter aufgetragen, jeder solle so leben, als sei der eigene Ring echt, bis sich „in tausend tausend“ Jahren an der Veredlungskraft das authentische Erbstücks erwiesen habe. Lessings Botschaft, den ethischen Kern der universalen Vernunftreligion als Menschenerziehungsprojekt zu begreifen, die Wahrheitsfrage also mit dem Ergebnis langfristiger Evaluierung zu verknüpfen, scheint uns Nachgeborenen der Aufklärung plausibel. Trotz des Versagens seiner Kirchen unter dem NS-Regime ist das christliche Abendland noch nicht ganz aus dem Evaluierungsrennen geschieden. Zugleich kommt die vertagte Wahrheitsfrage über Orientierungsvakuum, Wertedebatten, Konfrontation der Kulturkreise zur Hintertür wieder hinein.

Legitimiert oder disqualifiziert sein später Gründungstermin (7. Jahrhundert) den Islam als unüberholbare Offenbarungsreligion? Die jüdische Sekte der Nazarener bewegt sich bei dieser Argumentation auf kritischem Terrain. Wo aber geistige Quellen des Abendlandes definiert werden sollten, verpufft eine christlich-jüdisch-muslimische Charakterisierung unserer Kultur zur politisch korrekten Sonntagsrede – die weder der Wahrheitsfindung noch der Würdigung des „muslimischen Mitbürgers“ dient. Auch bei dem beliebten jüdisch-christlichen Etikett wäre es hilfreich, philosemitische Projektion vom historischen Detail zu trennen. Was ist wirklich passiert bis zum 7. Jahrhundert? Griechen stellen den Menschen in den Mittelpunkt, erfinden Demokratie, Römer entwickeln ein Staats- und Rechtssystem; beide Gestaltungsideen verbinden sich mit dem aus dem Judentum erwachsenen Christentum. Der Spezialbeitrag dieser Religionen besteht in ihrer Idee von einem transzendenten Gott, der Geschichte wird, ohne in ihr aufzugehen: radikaler als in anderen Gottesbildern. Europas Chance, Einheit und Vielfalt zu denken und zu leben, entwickelt sich aus diesem paradoxen Offenbarungskern. Zur Geschichte, die Juden und Christen als Heilsgeschichte erkennen könnten, gehört die Reibung der Versionen und Positionen, nicht nur in der Genesis der Ringparabel; zur Geschichte gehört der Islam. Wo Transzendenz auf Geschichte stößt, sind „tausend tausend Jahre“ manchmal wie ein Tag.

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