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Kundus und die Folgen: Kartell der Ignoranten

Im Fall Jung geht es auch um die Kanzlerin selbst. Es könnte der Beginn einer Staatsaffäre sein, die auch das Kanzleramt erschüttert. Der Staatsanwaltschaft wurden wichtige Unterlagen vorenthalten, der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt steht drohend am Zaun.

Am 8. September, vier Tage nach dem Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster in Afghanistan, ging Angela Merkel im Bundestag in die Offensive. Ihre Regierungserklärung war schon damals bemerkenswert; heute ist sie es umso mehr. Es lohnt sich, noch einmal hineinzuhören:

„Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Die Bundeswehr wird mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen.“ Sie werde Vorverurteilungen nicht akzeptieren. „Ich sage nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, ganz deutlich: Ich verbitte mir das, und zwar von wem auch immer, im Inland genauso wie im Ausland.“

Heute ist bekannt, dass die lückenlose Aufklärung nicht nur unterlassen, sondern sogar behindert wurde. Der Staatssekretär musste deswegen gehen und der Generalinspekteur, jetzt auch der Minister. Geradezu erbarmungswürdig ist dessen persönliche Unschuldserklärung: Ja, er habe gewusst, dass es da noch einen Bericht der eigenen Leute gegeben habe; nein, er habe dessen Inhalt nicht zur Kenntnis genommen. Eine Affäre, in der es um Terror und Tote geht, um einen unerklärten Krieg und um den Frieden im atlantischen Bündnis, um seine Reputation und die der Kanzlerin – und da verweigert ein Minister die Kenntnis? In keinem Regierungsamt ist so ein Politiker tragbar. Sein Rücktritt war unausweichlich. Die entscheidende Frage aber bleibt: Stand Franz Josef Jung an der Spitze eines Kartells der Vertuscher und Ignoranten – oder war noch jemand darüber?

Man mag bei der innenpolitischen Brisanz und der außenpolitischen Dimension des Vorfalls und erst recht wegen Merkels Erklärung zur persönlichen Verantwortung kaum glauben, dass der Kanzleramtsminister nicht alles, aber auch wirklich alles dafür getan hat, jede, aber auch wirklich jede Information auf seinen Schreibtisch zu bekommen. Und man mag kaum glauben, dass er es doch getan hat. Denn das wäre der Beginn einer Staatsaffäre, die auch das Kanzleramt erschüttert. Der Staatsanwaltschaft wurden wichtige Unterlagen vorenthalten, der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt steht drohend am Zaun.

Und die Kanzlerin selbst? Sie, die sich selbst zu lückenloser Aufklärung verpflichtet hat, als Gebot der Selbstverständlichkeit? Sie, die sich selbstbewusst kritische Töne auch vom wichtigsten Verbündeten Deutschlands verbeten hat? Welcher Wagemut hatte sie da erfasst, als sie so sprach? Oder war es die Hoffnung, wenigstens noch die paar Tage bis zur Bundestagswahl damit durchzukommen? Der Wunsch, dass es nicht wahr sein möge, worüber alle Welt im wahrsten Sinne des Wortes sprach? Mindestens ein Dutzend Angehörige der Bundeswehr und der Bundesregierung wussten über Wochen von dem zurückgehaltenen Bericht, in dem von zivilen Opfern die Rede ist, detailliert und glaubwürdig; einige wurden unter Druck gesetzt, ihr Wissen zu verschweigen. Die Wahrheit stirbt eben auch in Deutschland im Krieg zuerst, selbst wenn er nicht so genannt werden darf – oder gerade deswegen.

Zwei Tage vor ihrem Auftritt im Bundestag hatte die Bundeskanzlerin eine seltsam konjunktivierte Mitteilung herausgegeben. Darin heißt es: „Wenn es zivile Opfer gegeben hat, werde ich das natürlich zutiefst bedauern.“ Jetzt wäre es dann wohl so weit. Mit einer einfachen Erkärung ist es nun aber ganz sicher nicht mehr getan.

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