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LEICHTS Sinn: Urschleim menschlicher Niedertracht

Erlebt die Demokratie durch das Internet einen Aufschwung? Im Gegenteil: Es dominieren Häme, Herabsetzung, Beschimpfung, Verleumdung.

Das Internet ist unser Schicksal! So können wir das legendäre Wort Walther Rathenaus über die alles bestimmende Bedeutung der Wirtschaft abwandeln – oder ergänzen. Ein weiteres Schlagwort könnte einen solchen Bedeutungswandel gut ertragen: Im Jahr 1962 hatte Jürgen Habermas seine Habilitationsschrift unter dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ vorgelegt – ein Titel, der seither quasi als Zeichen der Zeit wieder und wieder zitiert wurde. Heute kann man mit allenfalls geringfügiger Übertreibung sagen, dass sich durch die Erfindung und Einführung des Internets ein größerer (und breiterer) Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzogen hat als in der Zeit vor Habermas’ berühmter Schrift.

Hier soll nun kein weiterer Aufsatz aus der unerschöpflichen Serie „Fluch und Segen der Technik“ folgen, aber doch eine abgrundtief skeptische Beobachtung, die manchen Optimismus über das Internet – genauer: über die Menschen, die sich seiner bedienen – zerstört. Vor einigen Jahren war ja euphorisch darüber spekuliert worden, dass aufgrund des Internets auch die demokratische Kultur einen ungeheuren Aufschwung nehmen könne und werde – Stichwort: E-Democracy. Der demokratische Diskurs werde weiter geöffnet, das Niveau und die Partizipation würden gesteigert.

Mit Verlaub: Das glatte Gegenteil ist der Fall! Nehmen wir zunächst nur das Beispiel der verschiedenen „Kommentarfunktionen“, deren sich die Leser von Blogs und Online-Ausgaben der Zeitungen bedienen können. Gewiss, man findet dort auch qualifizierte Anregungen, doch die Menge an gehässigen, dumpfsinnigen, ressentimentgeladenen, bisweilen verleumderischen und zudem von Unverstand bestimmten Eintragungen beherrscht sehr oft das Feld. Mitunter blickt man regelrecht in den Urschleim menschlicher Niedertracht.

Und wo liegt nun der vom Internet erzeugte Unterschied? Waren die Menschen früher etwa besser? Das sei ferne von mir! Aber wer früher sich am Diskurs beteiligen wollte, konnte nicht anders als zunächst mit der Schreibmaschine oder gar von Hand einen Leserbrief aufsetzen, diesen mit einem ladungsfähigen Absender, also mit Klarnamen versehen, sodann frankieren und zum Briefkasten tragen. Die Redaktion traf (und trifft noch) hernach eine Auswahl, und zwar nicht nur der Briefe, sondern auch jener Passagen eines ausgewählten Briefes, die des Abdrucks würdig wären – also die etwas Anständiges in anständiger Form zu sagen haben; Dummzeug und Beleidigendes fällt dabei unter den Tisch. Bisweilen prüfte man sogar nach, ob der Absender tatsächlich existierte und nicht etwa vorgetäuscht war. (Schließlich haftet auch die Redaktion selber für die Verbreitung strafwürdiger Äußerungen selbst in Leserbriefen.)

Die meisten dieser Schwellen, die das ungefilterte und angeblich so schön spontane „Ausspucken“ bloßer Aversionen im klassischen Leserbrief wirksam hemmten, sind durch die niedrigschwelligen Zugänge im Internet abgebaut. Zwar wird auch dort von Webmastern und Community-Managern Schlimmes abgefischt, aber vieles geht eben, gerade wegen des massenhaften Zustroms, doch durch deren Netze ins Netz.

Nun könnte man sagen: Wer’s liest, ist selber schuld. Aber da diese zu sehr großen Teilen unterirdische Kommunikationsplattform nun einmal etabliert ist, enthemmt und infiziert das Geschehen dort nach und nach auch andere, hergebrachte Foren des Austausches. Sogar in einigen journalistischen Beiträgen zur Wulff- und Gauck-Debatte fand man schon mehr als Spurenelemente einer „Kultur“ der schamlosen Häme und Herabsetzung.

Wenn diese Tendenz die Zukunft bestimmen sollte, dann sage ich mit Gretchen im „Faust“: Heinrich, mir graut vor dir!

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