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Meinung: Leidenschaft kennt keine Rezession

Von Roger Boyes Berlin ist eine dem Tode geweihte Stadt, das kranke Herz Deutschlands – finden Sie nicht? Keine andere deutsche Stadt wirkt so niedergedrückt durch die Rezession und scheint sich ihres Niedergangs so sicher zu sein.

Von Roger Boyes

Berlin ist eine dem Tode geweihte Stadt, das kranke Herz Deutschlands – finden Sie nicht? Keine andere deutsche Stadt wirkt so niedergedrückt durch die Rezession und scheint sich ihres Niedergangs so sicher zu sein. Sie hat sogar ein eigenes spezifisches journalistisches Idiom: die Rezessions-Reportage. Vergangene Woche entschieden die Berliner Tageszeitungen, dass die Fasanenstraße stirbt. Dies wurde aber so feierlich verkündet, als sei die Straße ein bedeutender Staatsmann, der seinen letzten Atemzug tut.

Ich bin dort herumgelaufen, mit der Absicht, einen Nachruf zu schreiben, habe wirklich gute Pasta mit Trüffeln in einem zugegebenermaßen ziemlich leeren Restaurant gegessen und konnte als einziges Zeichen der drohenden Apokalypse den bevorstehenden Umzug des Cartier-Ladens erkennen. Fasanenstraße-Mieten sind zu hoch, und die Kundschaft knapp.

Die Berliner nehmen das als tragisches Ende einer Epoche, ähnlich wie die Schließung des Café Möhring. Ein Engländer sieht darin eher das gesunde Zusammenwirken der Kräfte des Marktes: die Art, wie der Kapitalismus Fasanenstraße-Eigentümer daran erinnert, nicht so gierig zu sein, und Juweliere ermahnt, die Preise herabzusetzen. Berlin ist der Oblomov der deutschen Städte, es hat aus der Trägheit eine Kunstform gemacht. Die Zeiten sind schlecht, ist das gängige Argument, also ist es besser, jegliche physische und intellektuelle Energie zu konservieren. Im Zweifel einfach im Bett bleiben.

Die wahre Dynamik der Stadt, so denke ich, liegt in der türkischen Gemeinde. In der vergangenen Dekade hat sich dort Entscheidendes bewegt, aber die deutschen Berliner sind so beschäftigt mit der Wiedervereinigung und ihren eigenen Problemen, dass sie das schlichtweg übersehen haben.

Es ist schwierig, am Tiefpunkt der Rezession einen Haar-Salon am Hackeschen Markt aufzumachen. Trotzdem hat meine Freundin Ayfer dieses Risiko im vergangenen Winter auf sich genommen. Jetzt ist diese Eine-Frau-Bude zu einem florierenden, recht schicken Arbeitsplatz für vier Frauen geworden.

Ihre Geschichte ist typisch für die neue türkische Generation: eine große, relativ arme Familie in München, eine erfolgreiche Lehre, Abi via zweiter Bildungsweg, eine kurze Zeit des Studierens, zurück zum Haar-Business, Stylistin in Berlin, leiht sich Geld und eröffnet einen Salon. Ich könnte ein Dutzend solcher Lebensgeschichten von türkischen Self-Made-Geschäftsmännern und -frauen, -Anwälten, -Architekten erzählen.

Warum hat der Döner die Curry-Wurst verdrängt? Nicht wegen einer Anti-Deutschen-Verschwörung (wie die kahlköpfige NPD gern weismachen will), sondern wegen des Marketing-Talents der Türken. Okay, es wäre albern, die Türken zu idealisieren oder irgendein anderes ethnisches Segment der Stadt; es gibt auch türkische Kriminelle und Unruhestifter. Aber – durch die Augen eines Außenseiters betrachtet – die Türken sind zu Berlins pochendem Puls geworden. Eine Stadt, die eher an Wachstum denn an Winterschlaf interessiert ist, sollte gesellschaftlich poröser werden, sollte von der Energie des türkischen Berlins lernen, sie sich zu Nutze machen. Ist das eine so absurde Idee?

Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der „Times“. Foto: privat

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