
© imago images/Sabine Gudath
Berlin, Stadt der Gegensätze: Hier Obdachlosigkeit, dort Luxus und Konsum
Unsere Leserin beschreibt die Kluft zwischen Armut und Überfluss in der deutschen Hauptstadt. Sie ruft auf zu Solidarität und Hilfe. Und was meinen Sie?
Stand:
Jeden Tag gehe ich mit meinem Hund im Berliner Grunewald spazieren – und seit Monaten sehe ich etwas, das mich nicht loslässt: Überall im Wald stehen kleine, oft gut getarnte Zelte, in denen Menschen leben. Männer, Frauen, junge Erwachsene und Alte – Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft – sie suchen Schutz, weil sie sonst keinen Ort haben.
Doch die Menschen ohne Zuhause leben nicht nur im Wald. Viele schlafen unter Brücken, in verlassenen Häusern, in dunklen Ecken der Stadt – an Orten, die wir uns kaum vorstellen können. Wir haben oft gar keine Vorstellung, wo Menschen ohne Dach über dem Kopf tatsächlich schlafen.
Diese Menschen sind kaum sichtbar. Ihre Zelte oder Schlafplätze werden getarnt, viele frieren, haben Hunger, schämen sich oder haben Angst. Jedes Mal, wenn ich an so einem Ort vorbeikomme, frage ich mich: Wer schaut nach ihnen? Wer hilft ihnen? Kommt überhaupt jemand vorbei, der nachfragt oder Unterstützung anbietet?
Währenddessen erlebt Berlin eine ganz andere Welt: Überall hängen riesige Plakate – Werbung für Black Friday, Cyber Monday, Luxusmarken oder teure Uhren. Auf sanierten Häuserfassaden prangt Luxuswerbung, zum Beispiel das große Rolex-Plakat am Kaiserdamm gegenüber von BMW. Und das mitten in einer Stadt, in der Menschen buchstäblich im Wald, unter Brücken oder in verlassenen Häusern schlafen.
Im Radio hören wir jeden Tag Gewinnspiele ohne Ende – besonders jetzt zur Weihnachtszeit. Für Weihnachtsfeiern kann man 20.000 Euro gewinnen. Aber wer gewinnt? Zu 90 % Menschen, die finanziell bereits gut aufgestellt sind und solche Gewinne gar nicht nötig haben. Sie könnten ihre Feier und ihr Leben selbst bezahlen. Gleichzeitig frieren andere in Zelten, unter Brücken oder in leerstehenden Gebäuden.
Hinzu kommt die Social-Media-Welt: Influencer verteilen sich Gewinne, teure Geschenke und Luxusaktionen, während Menschen in der Stadt ohne Dach über dem Kopf ums Überleben kämpfen. Diese öffentliche Selbstinszenierung, dieser Egoismus angesichts wirklicher Not, ist beschämend und sollte uns alle nachdenklich stimmen.
Dann gibt es öffentliche Aktionen mit großen Budgets: Für die neue fünfte Staffel der beliebten Serie „Stranger Things“ wurden weltweit rund 100 Millionen Euro in Werbung gesteckt. In Berlin entstand dafür sogar ein eigener Stranger-Things-Weihnachtsmarkt. Millionen für Werbung und Event-Hype – und gleichzeitig Menschen, die ums Überleben kämpfen.
Wenn man all das zusammennimmt, wird der Kontrast schmerzhaft deutlich: Wir leben in einer Welt voller Überfluss, Luxus, Konsum, Werbung und Gewinnspiele – auf der einen Seite; auf der anderen Seite Menschen, die existenziell ums Überleben kämpfen, ohne sicheren Schlafplatz, ohne Schutz, ohne Sichtbarkeit. Wir haben so viel, dass wir wirklich nicht egoistisch sein sollten. Es ist an der Zeit, die Solidarität, die wir uns selbst wünschen, auch tatsächlich zu leben.
Mit diesem Beitrag möchte ich alle aufrufen – Bürgerinnen und Bürger, Initiativen, soziale Einrichtungen und vor allem die Stadt Berlin: Lasst uns hinschauen. Lasst uns nicht wegsehen. Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir diesen Menschen schnell und unkompliziert helfen können.
Ob durch warme Mahlzeiten, warme Kleidung, direkte Ansprache, medizinische Hilfe oder die Vermittlung zu Hilfsangeboten – jede Form der Hilfe kann einen Unterschied machen. Wir müssen jetzt handeln, bevor der Winter uns zwingt, genauer hinzusehen.
Berlin kann und sollte wieder eine Stadt der Solidarität sein. Initiativen wie das Weihnachtsessen des ehrenamtlichen Helfers Frank Zander zeigen: Ein warmes Essen und ein offenes Ohr können für jemanden eine enorme Bedeutung haben. Warum setzen wir nicht viel stärker auf solche Hilfe – statt auf Werbung, Luxus und Konsum?
Diese Gegensätze müssen uns wachrütteln. Darum meine vier Sätze für alle:
- Hinsehen statt Wegsehen
- Geben statt Konsumieren
- Wärme statt Werbung
- Gemeinsam statt Gleichgültigkeit
Ein Lächeln, ein warmes Essen, ein offenes Ohr – das kostet fast nichts und kann alles bedeuten. Berlin kann solidarisch sein – lasst uns zeigen, dass wir es auch wirklich sind. Katja Tietze-Koelling
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