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Meinung: DIE TÜRKEI UND DIE EU Welchen Sinn hat ein Beitritt?

Unser Leser Hans Bär befürchtet, dass Deutschland Hauptzuzugsgebiet wird. SPD-Außenpolitikerin Uta Zapf sagt: Diese Angst wird in Zukunft unbegründet sein

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Zu: „Was der Nachbar schafft“ und „Duzen Sie den Kanzler, Herr Öger?“ vom 22. Februar 2004

In der Diskussion wird immer wieder hervorgehoben, wie förderlich ein EU-Beitritt für die Türkei wäre. Ganz richtig fragt Gerd Appenzeller aber auch, welches Interesse Deutschland daran hat. Es scheint legitim, eine solche Frage ohne nationalistische Irrationalität den gewählten deutschen Volksvertretern zu stellen.

Deutschlands Einfluss in der EU würde wie der Frankreichs allein durch die höhere Bevölkerungszahl, die die Türkei in zehn Jahren aufweist, und das damit verbundene Stimmrecht maßgeblich abnehmen. Frankreich ist deshalb skeptisch, die deutsche Regierung offenbar nicht. Deutschland, der mit Abstand größte Nettozahler der EU, müsste dagegen einen Großteil der hohen Subventionen schultern, die für die Türkei mit einer Landwirtschaftsquote von dreißig Prozent und einem Viertel des deutschen Pro-Kopf-Einkommens auch noch nach längeren Beitrittsverhandlungen anfallen werden. Das EU-Land mit dem größten türkischstämmigen Bevölkerungsanteil, Deutschland, würde außerdem Hauptzuzugsgebiet für türkische Arbeitskräfte werden, die inländischen Arbeitnehmern Konkurrenz machen werden.

Angesichts eines weit gehend unreflektierten Nationalismus in der Türkei (siehe Leugnung des Armenier-Genozids, der für die Rot-Grüne-Regierung anscheinend keine Rolle spielt) und einem vehementen nationalen Anspruch, scheint es angebracht, auch deutsche Interessen und einen augenscheinlichen Interessenkonflikt klar zu benennen. Vielleicht ergeben sich so praktikablere, ehrliche Lösungen. Als linker Populismus muss es aber erscheinen, jeden, der am Sinn eines Türkei-Beitritts zweifelt, des Rechtspopulismus oder der Islamophobie zu bezichtigen.

Hans Bär, Berlin-Kreuzberg

Sehr geehrter Herr Bär,

die Diskussion um einen Beitritt der Türkei zur EU schlägt zurzeit hohe Wellen. Sie nimmt irrationale, nationalistische, populistische und gefährliche Formen an. Höchste Zeit also, die Diskussion zu versachlichen!

Erstens: Ende 2004 geht es nicht um den Beitritt der Türkei, sondern um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Diese Verhandlungen werden Jahre dauern. Je nach Fortschritt der Türkei können das gut 10-15 Jahre werden.

Zweitens: Welches Interesse hat Europa an der Einbindung der Türkei?

Die Glaubwürdigkeit der eigenen Politik gegenüber der Türkei steht auf dem Spiel. Seit 1963 (!) hat die Türkei ein Assoziationsabkommen mit der EU, das eine Beitrittsperspektive enthält. Alle deutschen Regierungen seit Adenauer haben erklärt, dass sie das Ziel einer späteren Mitgliedschaft der Türkei in der EU unterstützen.

Die Reformfähigkeit und die -willigkeit der Türkei hat sich seit 1999 dramatisch positiv entwickelt. Der Reformfortschritt wird eklatant unterschätzt. Für mich ist dabei das Wichtigste, dass die Regierung Erdogan offen zugibt, dass es nicht nur auf die Papierform, sondern auf die Umsetzung ankommt.

Die Türkei ist heute und wird in der Zukunft ein wichtiger Wirtschaftspartner sein. Besonders für Deutschland ist dies eine große Chance durch in Deutschland lebende türkische Unternehmer.

Innenpolitisch hat die Beziehung zur Türkei große Bedeutung für Deutschland. Der bisher schon teils problematische Integrationsprozess hier lebender Türken würde enorm gestört, wenn die Türkei aus populistischen Gründen zurückgewiesen würde.

Ein islamisches Land, das die Trennung von Religion und Staat zur Grundlage hat und eine so positive demokratische Entwicklung vorzuweisen hat, kann eine Brücke zwischen Orient und Okzident schlagen und Modellcharakter für die Demokratisierung der islamischen Welt gewinnen.

Sicherheitspolitisch spielt die Türkei als NATO-Partner eine wesentliche Rolle für Europa. Diese Rolle kann wichtiger werden, weil sich die Konflikte verlagert haben.

Was sind die Befürchtungen der Gegner?

Erstens: Das liebe Geld. Die Integration der Türkei werde Milliardensummen verschlingen. Diese Argumentation unterschlägt, dass eine Türkei, die in 15 Jahren beitritt, nicht mehr dieselbe Türkei sein wird wie heute. Die wirtschaftliche Entwicklung ist heute geradezu stürmisch.

Zweitens: Angst vor Migration. Über Bevölkerungswachstum und Migration herrschen überängstliche Vorstellungen. Die Geburtenrate im Westen der Türkei ist niedrig, im Osten geht sie zurück. Die Migrationsneigung nimmt ab, wenn das Wirtschaftswachstum anhält. Und es gibt die Möglichkeit der Übergangsregelung bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern, wie z. B. mit Polen vereinbart.

Im eigenen Interesse sollten wir die Türkei beim Reformprozess unterstützen. Die nationalistisch rückwärtsgewandten Kräfte dürfen nicht wieder die Oberhand gewinnen.

Uta Zapf ist stellvertretende Außenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Türkei-Expertin.

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