zum Hauptinhalt

Meinung: Europa kann die Türkei nicht mehr verkraften

Betrifft: „Kanzler: Kein Sonderstatus für die Türkei“ vom 22. Februar 2004 Es geht bei der Frage der Aufnahme der Türkei viel weniger um die Türkei selbst als um die Entwicklungsmöglichkeiten der EU.

Betrifft: „Kanzler: Kein Sonderstatus für die Türkei“ vom 22. Februar 2004

Es geht bei der Frage der Aufnahme der Türkei viel weniger um die Türkei selbst als um die Entwicklungsmöglichkeiten der EU. Insbesondere geht es nicht darum, einen islamischen Staat aus der EU herauszuhalten; und es geht nicht um irgendwelche mangelnden Qualitäten der Türkei. Die Türkei hat ihre eigene, gleichwertige Kultur.

Nach einer tausendjährigen Entwicklung mit viel katastrophaler Selbstzerfleischung hat sich Europa vor einem halben Jahrhundert auf den Weg gemacht, das Selbstzerstörerische zu überwinden und sich in einem politischen Gebilde zu vereinen. Es war ungeheuer schwierig, die Bevölkerung der Länder aus den nationalen Gegensätzen herauszuholen und sie bei diesem Prozess mitzunehmen.

Warum sich überhaupt eine positive, wenn auch unendlich langsame, Entwicklung eingestellt hat, war dem Umstand zu verdanken, dass die integrative Strömung ganz leicht die nationale, zentrifugale überwogen hat. Aus diesem Grund ist Europa nicht in dreimonatiger Arbeit an einer Verfassung wie bei der Gründung der USA, sondern nur in winzigen Schritten über 50 Jahre zur heutigen EU zusammengewachsen.

Dieser nur leichte Überhang der zentripetalen, der einigenden Kräfte konnte zustande kommen, weil die Europäer zunehmend eine Gemeinsamkeit gefühlt haben, die sich in tausendjähriger Entwicklungsgeschichte Schicht für Schicht niedergeschlagen hat.

Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit hat der europäischen Integrationsbewegung einen kleinen Vorsprung vor den spalterischen Nationalgefühlen verschafft. Der Vorsprung ist nicht groß. Er bleibt überwiegend unbewusst. In diesem Lichte ist eine Erweiterung der EU um zehn Länder kritisch genug, auch wenn diese zu der erwähnten europäischen Entwicklungsgeschichte gehören. Selbst die USA haben jeweils nur einen einzigen neuen Staat, und oft erst nach jahrzehntelanger Diskussion, aufgenommen. Ein Land, das so groß ist wie die Türkei und nicht zu der europäischen Entwicklungsgeschichte gehört, in die Union aufzunehmen, ist aber eindeutig nicht mehr verkraftbar, gleichgültig ob dies plötzlich oder langsam geschieht.

Mit einer Aufnahme der Türkei würden die Protagonisten der europäischen Einigung, das ist die Mehrzahl der Politiker, das Volk endgültig hinter sich lassen. Diese Spaltung zeigt sich schon in der überwiegenden Ablehnung eines Türkei-Beitritts durch die Bevölkerung. Die Integrationskräfte würden ihren kleinen Vorsprung einbüßen und hinter die zentrifugalen, nationalen zurückfallen. Die Entwicklung würde sich umkehren. Es liegt in der Situation der EU und ihrer Entwicklungsgeschichte begründet, dass ein Beitritt der Türkei die Auflösung der EU einleiten würde, und nicht in Mängeln der Türkei.

Hartmut Grebe, Berlin-Zehlendorf

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false