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Meinung: Junges Kulturradio kommt alt daher

Betrifft: „Das DissonanzenQuartett“ vom 28. Januar 2004 Sehr geehrtes Kulturradio, hier spricht Ihr williges Zielpublikum: halbwegs jung, halbwegs gebildet, Freiberuflerin und also eine klassische Durchhörerin, ganz und gar empfänglich und nachgerade abhängig von einem hübschen Tagesbegleitprogramm.

Betrifft: „Das DissonanzenQuartett“ vom 28. Januar 2004

Sehr geehrtes Kulturradio,

hier spricht Ihr williges Zielpublikum: halbwegs jung, halbwegs gebildet, Freiberuflerin und also eine klassische Durchhörerin, ganz und gar empfänglich und nachgerade abhängig von einem hübschen Tagesbegleitprogramm. So hänge ich seit ungefähr meinem dreißigsten Lebensjahr den ganzen Tag an der Welle - bis dato ohne größere Alterungserscheinungen. Doch nun! Nun bin ich altersmäßig in größter Verwirrung.

War ich zu jung für das alte Programm? Oder bin ich zu alt für das junge Programm? Oder werde ich am Ende - hoffentlich - niemals so alt und so spießig werden wie das blutjunge Programm, das zu hören ich nun gezwungen bin?

Denn nun nimmt mich mein junger, frischer Tagesbegleiter in Form meines Radios an die Hand - und führt mich geradewegs ins akustische Rentnerparadies. Dort soll ich mich verjüngen. Mit Blumenwalzern, Nußknacker-Suiten, Carmen-Fantasien, mit hier ein wenig Mozart, dort ein wenig Händel, ein paar Walzern, ein paar Märschen, heute in der einen Reihenfolge, morgen in der anderen. Und tatsächlich: Ich werde dramatisch jünger! So ungefähr fünf Jahre alt, denn ich fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit, als ich mit meiner Großmutter Wunschkonzert hörte. Das ist schön - für fünf Minuten.

Meint mein Radio wirklich, dass auch ich schon neunzig bin und akustische Kissen brauche? Dass mein Hirn bereits leicht durchlöchert ist, so dass ich „langfädigen Erklärungen“ nicht mehr folgen kann?Irgendwie ist das, wie wenn man mit fünfunddreißig zum ersten Mal einen Platz in der U-Bahn angeboten bekommt - nett gemeint, aber ziemlich beleidigend. So muss ich mich nun leider verabschieden. Auf Wiederhören in dreißig, vierzig Jahren. Dann werde ich vielleicht alt und spießig genug sein für dieses Programm.

Aber was soll ich bis dahin hören?

Gabriele Riedle, Berlin-Charlottenburg

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